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    Disclaimer: 
    Liebe Freunde und „Anteilnehmer“: Ich komme seit einiger Zeit nicht mehr so oft zum Bloggen wie in meinen ersten Monaten hier oder in der krisenreichen Zeit im Frühjahr/Sommer 2020. Das ist ein gutes Zeichen und kein Anlass zur Sorge - es bedeutet, dass alles soweit ruhig ist und ich meine Zeit mit langweiligen Besprechungen und Papierkram verbringe, über die sich nicht zu berichten lohnt. Man kann derweil unsere Arbeit aber (auf Englisch) auf Facebook, Instagram oder LinkedIn verfolgen. Danke für euer Verständnis und alles Anteilnehmen!

    März 2021

    Eine Frage der Wahrhaftigkeit

    „Was treibt dich im Moment am meisten um?“, hat mich vor ein paar Tagen eine Freundin gefragt. Es war eine spannende Frage, zumal ich gerade meine mehrwöchige Auszeit von der Insel nehme: Ich habe Zeit, die vergangenen Monate auszuwerten und die nächsten zu planen, und beim Auswerten ist mir schnell aufgefallen, was mich seit November beschäftigt hat. Wie kann ich über die Situation hier und das neue Camp Mavrovouni „wahrhaftig“ reden - ohne Schönfärberei, und trotzdem mit einer Perspektive der Hoffnung. Ich höre, dass in Deutschland nicht mehr viel über „unsere“ Flüchtlinge geredet wird. Für mich stellt sich das etwas anders dar, weil mir wohlwollende Freunde jedes noch so kleine Schnipselchen an Informationen und Berichten zu „unserem“ Camp weiterleiten. Da sind oft so viel Ärger und Bitterkeit zu spüren, so wenig Hoffnung, dass ich Mühe habe, mich davon nicht mitreißen und niederdrücken zu lassen. 

    Die Anfrage des Magazins idea, doch mal über die Situation hier zu schreiben, kam mir gerade recht, um meine Gedanken ein bisschen zu sammeln. Der Artikel unten wurde, leicht gekürzt, in der Printausgabe veröffentlicht und ist hier nochmal als .pdf zu finden.

    (PS: Es ist schon an sich ein gutes Zeichen, dass ich Hirnkapazität freihabe, um mir über Kommunikation Gedanken zu machen. Bis letzten Sommer floss ein Großteil meiner Energie in Notfallpläne und Krisen-Intervention…)

     

    Wie schlimm ist schlimm genug?

    Zur Situation auf Lesbos

    (Artikel erschienen im Magazin idea am 24.2.2021) 

    Es gab diese leise Hoffnung, dass doch noch alles irgendwie gut werden könnte im September 2020, als Moria gerade abgebrannt war, dieser Schandfleck Europas auf der Insel Lesbos. Die Szenen von Tausenden von Menschen, die tagelang auf der Straße lebten, lösten auch in Deutschland Betroffenheit und neue Debatten aus, mehr Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Einige besonders verletzliche Bewohner, darunter mehrere hundert unbegleitete Minderjährige, wurden schnell aufs Festland verbracht. Noch während Aktivisten und einige Politiker versuchten, den Druck auf europäische Regierungen zu erhöhen, und Verhandlungen begannen, wer denn nun wo und warum und wann aufgenommen werden sollte - und ob überhaupt! -, wurde auf Lesbos schnell ein neues provisorisches Lager errichtet: In Mavrovouni (Kara Tepe) leben im Moment knapp 7000 Menschen auf einem Gelände, das noch im letzten Sommer ein Truppenübungsplatz war. Es ist ein weitläufiges, an drei Seiten vom Meer umgebenes Gelände, über das die Inselstürme ungebremst fegen und das bei Regen zu Teilen überschwemmt wird. Die Menschen leben in Zelten, manchmal zu zehnt oder elft, bis zu drei Familien auf 16 Quadratmetern, oder zu 150 in Großzelten.  

    „Das neue Camp ist noch viel schlimmer als das alte“, schimpfen manche Aktivisten und Hilfsorganisation, die das Lager entsprechend als Moria 2.0 bezeichnen. Sie berichten von Kindern, die von Ratten gebissen werden, und von Zelten, in denen nach einem Regenschauer das Wasser knöchelhoch steht, und sie beschuldigen die Regierung, den Flüchtlingen aus Abschreckungsgründen bewusst grundlegende Rechte vorzuenthalten.

    „Es hat sich viel getan“, halten das Ministerium und EU-Behörden dagegen, die für die Unterbringung der Flüchtlinge und für die Einhaltung humanitärer Standards verantwortlich sind. „Die Zelte sind winterfest, Grundbedürfnisse werden erfüllt, und es ist ja nur eine Übergangslösung.“ Sie bezeichnen Mavrovouni als „Ein-Winter-Camp“ und versprechen den Bau einer neuen, besseren (und geschlosseneren) Struktur noch in diesem Jahr. 

    Die Berichte scheinen sich komplett zu widersprechen. Was stimmt denn nun? Wie schlimm ist es wirklich? Fast täglich melden sich verwirrte Freunde, gelegentlich auch Politiker mit dieser Frage bei mir. 

     

    „Es ist kompliziert“

    Ich bin oft selbst ratlos, wie ich auf diese Fragen antworten soll. Alles stimmt. Irgendwie. Aber bei fast jedem Bericht - egal aus welcher Richtung er kommt - habe ich ein leises „Ja, aber!“ im Kopf. Es ist oft verworrener und vor Ort viel komplexer, als man es in kurzen Artikeln beschreiben kann. Ja, die furchtbare Sache mit den Rattenbissen stimmt - aber nicht auf Lesbos, sondern auf Samos. 

    Ja, die Zelte sind „winterfest“ gemäß den Standards humanitärer Katastrophenhilfe. Ja, Überschwemmungen reichen nur noch selten in die Wohnzelte hinein. - Aber das schließt nicht aus, dass einige Eltern in Zelten mit nass-klammen Seitenwänden und feuchtem Boden elend durch die Nacht frieren und alles daransetzen, dass wenigstens ihre Kinder schlafen können. Das ist schrecklich.

    Am nächsten Tag scheint die Sonne dann wieder, die Barbiere stellen ihre Stühle im Freien auf, Frauen hängen die nassen Sachen auf die Leine, und die Kinder, für die sich das Lager mit all den großen Baumaschinen wie ein riesiger Abenteuerspielplatz darstellt, stapfen juchzend durch die Matschpfützen. Dann atmen wir zusammen mit den Bewohnern auf: auch das ist Camp-Leben! 

     

    Manches lebt sich vor Ort nicht ganz so dramatisch, wie es dargestellt wird. Und manches ist viel, viel schlimmer; das eigentliche Leid lässt sich nicht in der Anzahl der Duschen und der Generatoren-Kapazität messen. Es ist die Unsicherheit, ob man bleiben darf. Das Eingesperrtsein. Die Gewalt innerhalb von Familien, gegenüber der die Polizei und die Behörden machtlos sind, weil sie totgeschwiegen wird. Unbewältigte Traumata. Die Untätigkeit. 

    Ich würde komplett durchdrehen, wenn ich im Camp auch nur drei Tage leben müsste, denke ich manchmal, und ich frage mich dann: Wie schlimm muss es denn sein? Wie viele Kinder müssen Selbstmordgedanken äußern, wie viele Frauen täglich Panikattacken haben, wie viele Männer die Kontrolle über sich verlieren? Wie schlimm ist schlimm genug?

     

    Ein paar Dinge sind mir als Christin beim Reden über Lesbos und beim Arbeiten im Camp in den letztem Wochen wichtig geworden:

    „Die Liebe freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich an der Wahrheit“, heißt es im 1. Korintherbrief (13,6).  Und im Brief des Jakobus (1,20): „Seid schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. Denn eines Menschen Zorn bewirkt nicht Gottes Gerechtigkeit“. Soviel Leid hier wäre vermeidbar. Soviel Unfähigkeit, Unwillen und Konkurrenzdenken vergiften die Atmosphäre, dass ich meinen Ärger oft nur schwer zügeln kann. Aber ich weiß: in einem Zustand dauernder Erregung und gegenseitiger Schuldzuweisungen lassen sich nur schlecht konstruktive Lösungen entwickeln. Das muss ich mir in unseren Camp-Meetings genauso sagen wie beim Blick in die Sozialen Netzwerke. Ich will all das feiern, was menschenfreundlich ist und die Hoffnung hochhält!

     

    „Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Menschen.“ Das hat Alexander Solschenizyn gesagt, und der hat körperliches und psychisches Leid, staatliche Willkür und menschliche Bosheit auf einer Ebene erlebt, gegen die alle Erfahrungen von Moria und Mavrovouni sich vergleichsweise mild ausnehmen. Auch ich begegne in meiner Arbeit nicht einfach böswilligen Regierungsbeamten, untätigen EU-Bürokraten, unterdrückten Flüchtlingen und altruistischen Helfern. (Oder, je nach politischer Ausrichtung, all diesen Gruppen mit umgedrehten Vorzeichen!) Ich erlebe auf allen Seiten Menschen, die das Richtige tun wollen, sich aber oft genug nicht einigen können, was dieses „Richtige“ ist. Die nicht über den Schatten ihres eigenen Egoismus und ihrer Selbstgerechtigkeit springen können. Die in einer hochkomplexen Situation oft hilflos sind. Wie ich auch. 

     

    Aber bei all dem gilt auch: als Christen können wir es uns leisten, barmherzig und großzügig zu sein! Wir müssen nicht warten, bis alle das Ihrige tun oder alles Übel an der Wurzel gepackt wird, um das zu tun, was wir selbst und gerade jetzt tun können. Ja, Barmherzigkeit gibt es nicht zum Nulltarif; sie kostet uns etwas. Aber unser Handeln zeigt, wer wir sind und wer in unserem Leben das Sagen hat. Jesus hängt die Messlatte da gar nicht besonders hoch: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. … Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.“ (Matth. 25, 35ff.) 

    Wenn wir im zähen Ringen um „europäische Lösungen“ aus den Augen verlieren, dass es hier um echte Menschen geht, um Männer, Frauen und Kinder, die in einem Notquartier überwintern (während in Deutschland ganze Heime leer stehen), macht mich das unendlich traurig. Wer denn, wenn nicht wir reichen Deutschen, kann den Geschundenen und oft genug von ihrer Religion Enttäuschten aus aller Welt zeigen, was Jesus beschreibt: „Ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen.“

    Dienstag, 10. November

    Alles auf Anfang

    Es ist so ruhig hier. 

    Es hat eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, was mich an diesem neuen Camp so irritiert: Von Moria her war ich Dauerlärm gewöhnt. Die meisten unserer Bewohner kommen aus Kulturen, in denen es insgesamt lebhafter zugeht als in Deutschland. Irgendwer diskutierte immer mit irgendwem. In den vielen Schlangen, in denen Menschen stundenlang eng aneinander gedrängt anstanden, wurde lautstark gestritten. Dazwischen plärrten Babys, juchzten Kinder, forderten Bewohner an unserem Info-Point vehement ihr Recht, und das alles in verschiedenen Sprachen. Dass Moria so klein war und sich zwischen dem offiziellen und dem inoffiziellen Teil eine Art Tal befand, wirkte außerdem wie ein Trichter. Ich hatte Monate gebraucht, um unter dieser konstanten Beschallung nicht nur den Verstand zu behalten, sondern sogar konzentriert arbeiten zu können, und hatte mich irgendwie daran gewöhnt. 

    Und nun ist es so ruhig, dass ich es fast unheimlich finde. Das neue Gelände ist weitläufig: rund 20 Hektar, hat ein Bekannter ausgerechnet, also so viel wie Moria (4,3 ha) und all die halb-offiziellen Olivenhaine drumherum zusammengenommen, das Ganze bei nur noch etwa siebeneinhalbtausend statt 20.000 Bewohnern. Und es ist flach, so dass der Lärm sich mehr verläuft. An drei Seiten ist das Gelände von Meer umgeben, und eine dieser Seiten ist ein Hügel. “Schwarzer Berg“ heißt das neue Camp - auf Griechisch Mavrovouni, auf Türkisch Kara Tepe. Weil es in direkter Nachbarschaft schon ein bestehendes Familiencamp mit Namen Kara Tepe gibt, setzt sich für unser Übergangscamp mehr und mehr der Name Mavrovouni durch. Ein langsamer, sanfterer Name, finde ich, der nicht so dunkel und bedrohlich klingt wie “Moria“, was immer ein wenig an “Herrn der Ringe“ erinnerte.

    Dieser kleine schwarze Berg ist also auch Bestandteil des Camps, und auf ihm werden gerade Sportanlagen gebaut. In einem Bereich mit ein paar Bäumen und Olivensträuchern treffen sich die Christen aus dem Kongo für ihren Gottesdienst. (Sie sind Open Air noch aus Moria gewöhnt. Für die Muslime, die ihre Gebete nun auch im Freien abhalten müssen, ist die Umstellung größer. Im neuen Camp gibt es bisher keine Moscheen.) Ein paar Pfade führen zwischen Exkrementen-Häufchen, die noch aus den ersten Tagen des unfertigen Camps stammen, den Berg hinauf, und auf meinem Erkundungsgang begegnen mir dort einige Jogger. Es tut einfach gut zu sehen, dass es hier Platz gibt, sich zu bewegen - auch während des Lockdowns! Mitten im Camp gibt es einen eher tiefliegenden Abschnitt, der beim ersten Regen hoffnungslos überschwemmt war; dort wurden die Zelte entfernt und es ist ein inoffizielles Fußballfeld entstanden. Als ich meine erste Runde drehe, findet gerade eine Art Afrika-Cup statt. Vielleicht spielt Afghanistan morgen? 

     

    Ich habe gleich an meinem ersten Tag eine ganze Reihe Meetings, zu denen mich mein Vertreter der letzten Monate unbekümmert mitschleppt, damit ich wieder einen Überblick bekomme: Das Treffen aller Hilfsorganisationen und Camp-Behörden am Vormittag zum Beispiel, und am Nachmittag dann ein Treffen fast derselben Leute mit Vertretern des Ministeriums für Migration und Asyl und der Task Force der Europäischen Kommission, die nach dem Moria-Feuer gegründet wurde. Insgesamt redet das Ministerium hier mehr mit, als wir es von Moria her kennen, und hat auch einige Leute auf Lesbos eingesetzt, um mit der Camp-Verwaltung zusammenzuarbeiten. Abgesehen von diesen neuen Leuten ist es ein absurdes Déja-Vu: Ich sitze mit den gleichen Kollegen von den gleichen Hilfsorganisationen zusammen wie vor drei Monaten. Wir wälzen so ziemlich die gleichen Probleme. Aber es ist ein anderes Lager und ein anderer Besprechungsraum: ein zugiges Zelt, dessen viele „Fenster“ wir aus Corona-Gründen auch offen lassen, bis uns die Finger so einfrieren, dass wir nicht mehr auf unseren Laptops und Tablets tippen können. 

     

    Von der Bergseite aus, auf dem das Besprechungszelt steht, hat man einen großartigen Überblick über das Camp - was auch erklärt, dass die Polizei ihr Zelt auch dort stehen hat. Sie schaut direkt auf die „Gelbe Zone“: das ist ein aufgeschütteter Hügel, in dem in großen Zelten jeweils bis zu 150 alleinreisende Afghanen leben und daneben in kleineren „Familien“-Zelten die Single-Araber und -Afrikaner. Auf der Seite ihres Hügels, der uns zugewandt ist, ist ihre Wasserstelle, ein Rohr mit einigen Wasserhähnen, an denen sie mangels Duschen unbekümmert und in aller Öffentlichkeit ihre Morgen-, Mittag- und Abendtoilette erledigen. Ich glaube, ich finde es etwas gewöhnungsbedürftig, aus den Augenwinkeln eigentlich durchgehend ein halbes Dutzend Afghanen in Unterhose zu sehen. 

    Man sieht von hier aus auch gut auf die anderen Zonen: die Rote und Grüne (afghanische Familien aus verschiedenen Ethnien) und die Blaue (andere Bevölkerungen, Single-Frauen und sonstwie besonders verletzliche Menschen). Nachdem es in Moria sehr verschiedene Unterkünfte gab - von Containern mit (manchmal sogar funktionierender) Klimaanlage und einer Sanitäreinheit für 50 Menschen bis hin zu selbstgebauten Verschlägen hunderte Meter vom nächsten Wasserhahn entfernt - hat es hier ein großes Gleichmachen gegeben: Alle wohnen in Zelten. Alle wohnen innerhalb des Camps. Es gibt keinen Dschungel außerhalb, in dem das Recht des Stärkeren herrscht und Familien den Banden schutzlos ausgeliefert sind. Für alle gibt es erst einmal nur Dixi-Klos und (zu wenige) „Eimer-Duschen“. 

    Von hier oben betrachtet sieht es alles recht ordentlich aus, ein bisschen wie die Camps, in denen ich im Irak gearbeitet habe. Aber je näher man den einzelnen Zelten kommt, desto mehr merkt man natürlich auch, wo es noch hapert. Die Zelte - vor allem die, die nahe am Meer liegen - halten dem starken Wind kaum statt, der jetzt im Herbst mit solcher Macht über die Insel fegt, dass selbst die Möwen um ihre Balance kämpfen und wir uns an manchen Tagen fest gegen den Sturm stellen müssen. Immer wieder reißen Planen ein und Schnüre ab, und unser Handwerks-Team ist durchgehend mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt. Bisher gibt es noch keine ausreichenden Sanitäranlagen, und das bisschen Strom kommt von Generatoren und reicht nicht, dass jede Familie auch nur ein Heizöfchen betreiben könnte. (Wobei das Betreiben von Heizöfchen, genauso wie das Kochen, aus Sicherheitsgründen auch erst einmal verboten ist.) Es gibt noch viel zu tun, um das Camp winterfest zu machen!

     

    Aber es gibt auch einiges, das positiv auffällt. Ich komme mit einigen Familien ins Gespräch, und sie bestätigen mir, was ich schon selbst empfunden habe: Es ist so viel sicherer hier! In Moria haben die Vertreter der Volksgruppen über Monate hinweg immer wieder um eine stärkere Polizeipräsenz gebettelt, und nun ist diese ganz offensichtlich. Es sind nicht nur unglaublich viele Polizisten im Camp - darunter einige Frauen, was auch neu ist - sondern sie patrouillieren tatsächlich durch alle Zonen und es scheint keine No-Go-Bereiche mehr zu geben. Breite Straßen machen es möglich, dass sie - und wir alle - viel leichter den Überblick behalten. Am Eingang werden Taschen kontrolliert, Messer und andere mögliche Waffen konfisziert. 

    Manche Aktivisten und Hilfsorganisationen haben am Anfang, als das neue Camp innerhalb weniger Tage aus dem Boden gestampft wurde und die Verhältnisse nur als katastrophal beschrieben werden konnten, von “Moria 2.0“ geredet, aber ich tue mich mit dieser Bezeichnung schwer. Ich möchte gerne weiter hoffen, dass der Brand von Moria die Chance auf einen Neuanfang birgt, in dem wenigstens die grundlegendsten Standards der humanitären Hilfe berücksichtigt werden. Nein, es ist noch lange nicht gut, und weil Mavrovouni wohl ein Übergangscamp bleiben wird, fragen wir uns natürlich, welche Investition überhaupt angemessen ist. Die vielen Regeln rund um Corona und der strenge Lockdown machen das Arbeiten  zusätzlich mühsam. 

    Aber was in Moria Bestand hatte, zählt hier auch: Glaube, Hoffnung, Liebe. Im Moment, so glaube ich, brauchen wir vor allem eine Extraportion Hoffnung. Um sie weiterzugeben.

    Freitag, 11. September

    Moria finish, my friend!

    „Kaum bin ich mal ein paar Wochen weg, explodiert bei euch alles“, habe ich vorgestern meinem Vertreter gegenüber gemault. Es ist reine Hilflosigkeit, weil ich noch gar nicht recht glauben und in Worte fassen kann, was da passiert ist. Moria, wie wir es kannten und wie es die letzten beiden Jahre meines Lebens bestimmt hat, ist nicht mehr.   

    Ich kann die Bilder, die mich vorgestern völlig unvorbereitet auf WhatsApp überrumpelten und die seit Tagen durch die sozialen Medien flimmern, kaum ansehen. Das dort war wohl mal unser Info-Point und Büro-Container. Hier stand das Zelt von Youssef aus Syrien, der bei einer der letzten Camp-Unruhen für mich übersetzt hat. Die beiden großen Räume dort auf Level 2 waren im März abgebrannt und - unter anderem von meinen GAiN-Freunden - wieder aufgebaut worden; jetzt sind sie wieder Ruinen aus Stahl und Blech, dessen Beschichtung abgeplatzt ist. Die Marktstände am Moria-Hügel… der aus Paletten gebaute zweistöckige Friseursalon… der Kaffeestand hinter unserer Windelausgabe, dessen afghanischer Inhaber von unseren Helfern nie Geld für den besten Cappucino des Camps nahm… - alles weg. Das ganze Gelände, das sonst vom bunten, lebendigen Gewusel der Menschen aus rund 60 ethnischen Gruppen bestimmt war - und oh, der vielen, vielen Kinder! -, ist auf den Bildern eine schwarzgraue, leblose Geisterstadt. Neue Brände in den Tagen nach dem großen Brand, der durch unsere Medien ging, haben auch die letzten Behausungen unbewohnbar gemacht. Fast 13.000 Menschen sind obdachlos. „Moria finish, my friend!“, hörte meine Kollegin von ein paar versprengten Bewohnern, die am Tag nach dem Brand in den Trümmern nach Verwertbarem suchten. 

     

    Ich fange an, mich zu korrigieren, wenn ich über unsere Arbeit in Moria spreche: „Wir machen das und das, und auch dies oder jenes, und diese Mitarbeiterin ist dafür verantwortlich…“ Nein, wir MACHTEN dies und sie WAR verantwortlich. Vor Ort sortiert sich alles neu; die Arbeit verlagert sich an die Straßenränder und auf die Parkplätze, an denen die aus dem Lager geflüchteten Geflüchteten nun auf Hilfe warten. Über Lesbos ist der Ausnahmezustand verhängt worden, und meine Kollegen und Mitarbeiter finden neue Wege, um unter Bedingungen zu helfen, in denen nichts vorhersehbar ist. Es gibt Straßensperren der Polizei, bedrohliche Ansammlungen von Rechten und Demonstrationen der Evakuierten, die jederzeit in Gewalt ausarten können. Die Leute haben Hunger. Essensausgaben müssen abgebrochen werden, weil die Lage für die Helfer nicht sicher genug ist. Letzte Nacht, so heißt es, hat eine Frau auf dem LIDL-Parkplatz auf einer Plastikplane ihr Kind entbunden. 

    Und ich kann nicht dort sein. 

    Die eine Herzklappe sagt: Sofort zurück nach Lesbos! Die andere Herzklappe sagt: Du brauchst deine Pause nach einem halben Jahr Dauerkrise! 

    Und der deutsche Staat, dem meine Herzklappen herzlich egal sind, sagt: Nach zwei Jahren im Ausland muss ein entsandter Arbeitnehmer zwei Monate in Deutschland verbringen, bevor er wieder ausreisen darf. Damit steht fest: bis Anfang November werde ich die Situation auf Lesbos allenfalls aus der Ferne begleiten. Ich will mich über die Zwangspause freuen. Auf mein Team kann ich mich verlassen - viele von ihnen sind gerade aus ihren längeren Pausen zurück gekehrt und haben die nötige Frische für die erneute Krise - und ich versuche mich damit zu trösten, dass ich immerhin ein bisschen Medienarbeit machen und Hintergrundinformationen zu dem geben kann, das einmal Moria gewesen ist. Es schafft eine gewisse Verbundenheit mit der Arbeit vor Ort, aber gleichzeitig zerreißt es mich umso mehr, nicht bei meinen Leuten zu sein.

     

    (Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich im Moment nicht auf jede Email, Anfrage und besorgte Nachfrage ganz persönlich reagieren kann und in den nächsten Wochen vermutlich auch nicht an diesem Blog schreiben werde.

    Hier habe ich einige Links von Interviews zusammengetragen, in denen ich über die Situation berichte: Ein Skype-Interview auf Phönix, Radiointerviews beim rbb, WDR 5 Morgenecho, WDR 3 Resonanzen, im Deutschlandfunk und ERF Pop.) 

     

    Ab Ende nächster Woche werde ich für gut zwei Wochen abtauchen und endlich versuchen, meiner Seele - auch im Gespräch mit Gott und anderen Menschen - mal wieder ein bisschen Raum zu geben: die letzten Monate wollen ausgewertet und eingeordnet werden. Die meisten Pläne, die ich mit meinem Team „für ab November“ gemacht hatte, müssen überdacht und zum großen Teil begraben werden. Ungezählte Dokumente, in denen wir alle in Hunderten Stunden Arbeit definiert haben, warum wir im Camp was wie wann machen, haben ihre Bedeutung verloren. Ich werde sicher Zeit brauchen zum Abschiednehmen von Moria, wie wir es kannten, und von dem, was unsere Aufgabe darin war. 

    Was mich jetzt schon tröstet: Es ging uns nie nur darum, dass Menschen ein Hygienepaket in die Hand gedrückt, ein Dach über dem Kopf oder eine Tüte mit Windeln bekamen. Es war immer unser Anliegen, den Bewohnern von Moria zu vermitteln, dass sie gesehen werden und nicht vergessen sind. Dass sie nicht nur Nummern sind, sondern wertvolle, von Gott geliebte Menschen mit ihrer eigenen Geschichte, die es wert ist, gehört zu werden, und mit einer Würde, die ihnen auch die schrecklichen Zustände in Moria nicht nehmen konnten. „Es geht nicht verloren, wenn sich Liebe verschenkt“, hat es die Sängerin Cae Gauntt in den Achziger Jahren ausgedrückt, und daran will ich festhalten.   

    In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist unsere Arbeit von vier Jahren, sind Zehntausende Euro, mit denen wir Moria wenigstens ansatzweise wohnlich zu machen versuchten, in Flammen aufgegangen. Und doch: „Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13, 13)

    Mittwoch, 19. August 2020

    Heilige Sturheit

    „Im Angesicht der Gefahr ist Geschirrspülen manchmal das Gesündeste, was man machen kann.“ So ähnlich hat es die Autorin eines Buchs zum Thema Krisenmanagement ausgedrückt, das ich in der letzten Zeit - aus gegebenem Anlass - gelesen habe. Die Autorin hatte mir ihrer Familie in Afghanistan gelebt und war es gewohnt, dass zu jeder Zeit irgendetwas Schlimmes passieren konnte. Notfallpläne waren gemacht und man passte sie auch immer wieder an - aber dann kam auch der Moment, an dem man das Leben einfach leben musste: Hausarbeit erledigen, Emails beantworten, die Kinder versorgen… Ich habe an diesen Tipp in den letzten Monaten öfters denken müssen - vor allem beim Geschirrspülen, wenn ich aufs Meer hinausschaute und mir bewusst wurde, wie skurril unsere Situation hier ist. Und das nun schon monatelang.

    Ich lebe einerseits auf einer Urlaubsinsel. Einen Großteil meiner Arbeitszeit, wenn ich nicht gerade im Camp bin, verbringe ich in Gesprächen oder über meinen Laptop gebeugt in Cafés am schnuckeligen Hafen von Panagiouda, zwei, drei Kilometer von Moria entfernt. Die Hitze lässt sich gut aushalten, wenn das inseltypische Lüftchen weht, und von gelegentlichen Notfällen abgesehen habe ich die Wochenenden am Strand verbracht, der von meinem Haus aus nur ein paar Hundert Meter entfernt ist. Oder ich bin zu den anderen, unglaublich klaren türkisen Stränden der Insel gefahren. Sie ist ja klein genug, dass man sie in zwei Stunden durchqueren kann. 

    Das ist die Seite der Insel, die sich im Moment Leuten wie mir präsentiert, die wir vom Westen her und legal „angereist“ sind. 

    Für die Bewohner von Moria, für die, die in Schlauchbooten aus dem Osten gekommen sind, stellt sich das alles ganz anders dar. Seit Mitte März steht das Camp nun unter Lock-Down. Zunächst immer um zwei Wochen verlängert, wurde diese Ausgangssperre Anfang August einfach für den ganzen Monat ausgerufen. Während die allgemeine Bevölkerung schon im April wieder ohne Sondergenehmigung das Haus verlassen durfte, im Juni Restaurants und nach und nach auch Hotels öffneten und Griechenland zaghaft den Tourismus wiederaufnahm, änderte sich für unsere Flüchtlinge? Gar nichts. Noch immer brauchen sie eine Erlaubnis von der Camp-Polizei, um - in kleinen Gruppen und pro Tag nicht mehr als 500 - in die Stadt zu gehen und Wichtiges zu erledigen, Arzt- oder Apothekenbesuche zum Beispiel, oder Termine bei ihrem Anwalt. Wer sich danach erlaubt, noch eine Runde durch die Fußgängerzone zu spazieren, und dabei erwischt wird, zahlt 150 Euro. (Das tut extrem weh, wenn man pro Person und Monat 90 Euro bekommt!) Viele Moria-Bewohner scheren sich nicht um die Regeln, mogeln sich an den Polizei-Stationen vor dem Camp vorbei und nehmen das mögliche Bußgeld in Kauf, um ihren Kindern ein paar Stunden am Meer zu gönnen oder ein Eis in einer Strandbar. Andere wollen oder können das nicht riskieren und sitzen in Moria fest, wo sich die Hitze in den Zelten staut, die Klimaanlagen auch in den Containern selten ausreichend Kühle spenden und der Müll in der Sommerhitze eine Art Eigenleben entwickelt, über das sich nur die Ratten freuen. Die fußgroßen Biester bewegen sich längst völlig schamlos und öffentlich in den Bereichen, in denen Menschen leben und arbeiten. 

    Viele Asylanträge sind in den letzten Monaten angenommen und die „Glücklichen“ sind genötigt worden, das Camp zu verlassen und sich (möglichst auf dem Festland) ein eigenes Leben aufzubauen, bei dem der Staat nur wenig Hilfe leistet. Andere wurden abgelehnt und haben sich zur Selbstdeportation angemeldet: sie bekommen etwas Geld zur Reise und Wiedereingliederung in dem Land, aus dem sie geflüchtet sind, und dann haben sie 10 Tage Zeit, Griechenland zu verlassen. Weil niemand nachprüft, ob sie das wirklich tun, sammeln sich die Abgelehnten mit den Angenommenen nun, zusammen mit Griechenlands Obdachlosen, zunächst auf den öffentlichen Plätzen in Athen und versuchen sich dann mehr oder weniger legal in andere Länder Europas durchzuschlagen. Das alles ist ziemlich absurd, aber von Lesbos aus weit genug weg, dass sich der Gedanke daran leicht wegschieben lässt. Statt 20.000 Bewohnern haben wir nun nur noch knapp 13.000. Wenn uns vor einem Jahr, als das Camp mit gut 5.000 fast gemütlich belegt war, jemand erzählt hätte, dass wir 13.000 je als eine gute Botschaft ansehen würden, hätten wir ihn ungläubig ausgelacht. 

     

    Über all dem hängt natürlich immer noch das Damoklesschwert der  Corona-Bedrohung mit ihren diversen Schreckensszenarien, die sich ja nicht geändert haben. Die Pandemie war über die letzten Monate hier nur nicht so präsent, dass ein Ausbruch im Camp unmittelbar bevorzustehen schien. Auf der Insel gab es lange keine Fälle (bzw.  nur unter neuen Bootsflüchtlingen, die sofort unter Quarantäne gestellt wurden), und die vielen Einzeleindrücke, die das Puzzle der letzten 11 oder 12 Wochen ausgemacht haben, schienen kaum einen Blogeintrag meinerseits wert. Es war ein Gemisch aus endlos Frustrierendem (dass eine Isolierstation für Moria aufgebaut wurde und dann aus den absonderlichsten Gründen wieder abgebaut werden musste; dass die vulnerable Bevölkerung immer noch nur zu einem kleinen Teil evakuiert werden konnte…) und Schönem, sogar Bezauberndem.  Ich habe in den letzten Monaten gelernt, im Angesicht der Gefahr „Geschirr zu spülen“, einfach meine Arbeit zu machen und dabei kleine Momente zu schätzen: Mit einem Eiskaffee 10 Minuten auf einem Mäuerchen vor dem  Camp sitzen und afghanischen Jungs zusehen, wie sie ihre aus Plastiktüten und Holzstückchen gefertigten Drachen steigen lassen. Ein paar Worte mit einem unserer Übersetzer wechseln, der mich erst mit einer wilden Geschichte veräppelt, dass er nun illegal nach Athen gehen werde, um sich dann königlich über die freundlichen Worte und Komplimente zu amüsieren, die ich ihm „zum Abschied“ mitgebe. Für einen Facebook-Post eine Südsudanesin interviewen, deren entsetzliche Geschichte mich bedrückt und deren Stärke mich beeindruckt. Mit einer jungen Helferin einen Abschiedskaffee trinken und hören, wie sie in ihrer Zeit in Moria mit Gott gerungen und in der Bibel Antworten gefunden hat. Mit einem jungen Afghanen und seinem Onkel hinter einem Container hocken und staunend zuschauen, wie unsere Bürocontainer-Katze Skyla Junge wirft. (Ein Hoch auf die Rattenfänger der Zukunft!) Auf den illegalen Marktständen - sie zahlen keine Steuern -, die sich völlig ungeniert im Camp ausgebreitet haben, nach einem Knäuel Kordel suchen und per Google-Translate auf Farsi und Arabisch mit den Verkäufern verhandeln. 

    Es ging mir in den letzten Monaten nicht immer gut, und der Blick auf den Kalender („wie viele Wochen noch?“) hat mich mehr als einmal sehr, sehr müde gemacht. Aber irgendwie, irgendwann ging es doch immer wieder, und ich habe die ganze Zeit gewusst, dass ich nirgendwo anders sein möchte. Gerade jetzt. Vielleicht hat irgendein Kirchenvater ja einmal die „heilige Sturheit“ als Tugend definiert, die einfach das Naheliegende tut, einen Schritt vor den anderen setzt, und sich von der Gefahr und der Angst, die in der Luft liegt, nicht lähmen lässt? Ich glaube, diese Eigenschaft haben mein Team und ich in diesem Sommer entwickelt. 

     

    Seit letzter Woche ist nun wieder Bewegung in die „Corona-Geschichte“ gekommen. „Es fühlt sich an wie im April“, stöhnte die junge Mitarbeiterin einer anderen Hilfsorganisation, mit der ich mich gestern über unsere Notfallpläne austauschte. Sie hat mir aus dem Herzen gesprochen. Wir kramen alle unsere Pläne aus der Zeit im Frühjahr heraus, in der ein Seuchenexperte ankündigte, das Virus würde aller Voraussicht nach „innerhalb der nächsten zwei Wochen“ im Camp ankommen, und überlegen, was wir wie überarbeiten müssen. Inzwischen weiß man über Corona ja mehr als noch im April. Seit wieder mehr Menschen nach Griechenland reisen oder von ihren Auslandsreisen zurückkehren, hat es - wen wundert’s - mehr Coronakranke und auch wieder einzelne Tote gegeben. Auch in Lesbos gab es neue Fälle, darunter einige in Mytilene, nur wenige Kilometer vom Camp entfernt. Im Hotspot Vial auf der Nachbarinsel Chios sind seit Donnerstag einige Fälle bestätigt worden und das Camp ist unter einen noch totaleren Lock-Down gestellt worden, als wir ihn bisher hatten: Alle Aktivitäten von Hilfsorganisationen sind verboten (wobei dazu gesagt werden muss, dass Chios auch bis dahin NGOs nicht gerade begeistert Zutritt gewährte), und mehr Polizei als bisher stellt sicher, dass niemand das Camp betritt oder verlässt. 

    Auch für Moria gilt seit letztem Freitag: Alle Aktivitäten, die nicht unbedingt notwendig sind, um Moria am Laufen zu halten, wurden - zunächst bis 31. August - verboten. Es gibt keine Bildungs- oder Freizeitaktivitäten mehr, und viele der Hilfsorganisation, deren Angebote gerade für die unbegleiteten Minderjährigen ein bisschen gesunden Auslauf geschaffen haben, haben ganz plötzlich keinen Zugang mehr zum Camp. Wir ringen mit den griechischen Betreuern und dem Camp Management um die Auslegung der Formulierung „keine Freizeitaktivitäten organisieren“. Dürfen wir wenigstens einen Film zeigen? Mit den Jungs UNO spielen? Einen Fußball ausgeben? Schiedsrichter sein? Mitspielen? Hat sich irgendjemand einmal Gedanken darüber gemacht, was eine Ausgangssperre, verbunden mit einem Verbot von so ziemlich allem, was ihnen bis dahin Struktur und Bewegung verschafft hat, mit Hunderten von Teenager-Jungs macht? 

    Wir hoffen und beten, dass all diese Maßnahmen wirklich den erwünschten Effekt haben und das Virus „draußen“ halten. Und planen gleichzeitig für den Ernstfall. In acht Tagen fliege ich für zwei Monate nach Deutschland. Von all den Mitarbeitern, die die krisenreiche Zeit im März und April noch mitgemacht haben, bin ich die vorletzte, die nun endlich in ihre Pause aufbricht.  Ich hoffe, bis dahin unseren Plan soweit überarbeitet zu haben, dass wir unsere „unbedingt notwendigen“ Aufgaben mit einer kleineren Mannschaft und „Auswechselhelfern“ auch im Fall eines camp-weiten Corona-Ausbruchs weiter erledigen können. Wenn es dazu kommt - und der Lockdown weiter verschärft wird - wird das Virus nicht die größte Bedrohung oder unsere größte Sorge sein, sondern die Perspektivlosigkeit der Bewohner. Die psychischen Probleme. Das Eingesperrtsein. Die zu erwartende Gewalt. 

    Aber bis es soweit kommt - falls es soweit kommt -, tun wir unsere Arbeit einfach weiter: Wir verteilen Windeln, schreiben Emails, geben Essen aus, schlichten Streit, verteilen Arzt- und Transfertickets, räuchern Kakerlaken aus, quartieren Familien um, packen Kleiderpakete, sitzen in Sitzungen, beantworten Fragen, hüten Tore. In heiliger Sturheit.  

    Freitag, 22. Mai 2020

    80.000 Rollen Klopapier 

    Manchmal schreiben mich Leute an, die ein Interview von mir gelesen haben oder über meinen Blog gestolpert sind: Wie kann ich helfen? Kann ich ein Päckchen mit Kleidern oder Seife schicken? 

    Ich freue mich dann immer über die Hilfsbereitschaft und muss gleichzeitig ein bisschen lächeln: Wir denken hier nicht in Päckchen. Päckchen brauchen oft ewig und müssen dann auch mühsam auf der Poststation der Hauptstadt eingesammelt werden, was meine Bürokollegin jedes Mal mindestens eine Stunde kostet. Dann muss die Kollegin jemanden aus der Camp-Mannschaft finden, der es der Fahrerin fürs Warenlager mitgibt. Und dann ist es auch noch extra Mühe, ein einzelnes Päckchen aufzuschneiden und ein Sammelsurium an Hilfsgütern zu sortieren. Das alles kommt dann vielleicht einem oder zwei Geflüchteten zu Gute.

    Nein, wir denken längst nicht mehr in Päckchen. Bei inzwischen immer noch gut 17.000 Moria-Bewohnern denken wir in Paletten und LKWs. In Zeiten von Corona wird gerade so viel angeliefert - vor allem Hygiene-Artikel - dass sogar meine Hilfsgüter-Mitarbeiterin und ich mit den Ohren schlackern. So sehr wir uns freuen, wie viel Seife, Shampoo und Zahnpasta uns plötzlich geschickt werden - irgendwie müssen all diese Dinge ja „unters Volk“ kommen! Und wir sind fürs Camp-Management die erste Adresse für Verteilungen, weil wir die Datenbank führen und vermerken können, wer welche Hilfsgüter bekommen hat. Mit unserer geschrumpften Belegschaft werden Massenverteilungen allerdings umso komplizierter.

     

    Seit einigen Wochen diskutieren wir also über all diese Hilfsgüter, die zur Corona-Vermeidung gedacht sind. UNHCR hat 39 Paletten mit Hygieneartikeln von Windeln über Seife und Waschpulver, alles in sehr unterschiedlichen Mengen, geliefert. UNICEF bringt 2700 Familien-Päckchen mit Hygienepaketen, 105 Paletten. Wenn man bedenkt, dass in einen LKW etwa 30 Paletten passen, wir in unserem Warenlager vielleicht 40 Paletten stapeln können und der Lagerplatz auf dem Militärgelände im Camp ähnlich begrenzt ist, kann man nachvollziehen, warum all diese wunderbaren und dringend benötigten Güter auf unserer Seite auch ein bisschen Stress auslösen. 

    Eine große Organisation hat auch noch 80.000 Rollen Toilettenpapier angekündigt, die bei unserem letzten Hilfsorganisations-Treffen für Heiterkeit sorgten. „Na, in Deutschland wäre ich in Zeiten von Corona damit echt reich geworden“, witzelte ich, und zusammen mit meiner praktisch veranlagten holländischen Kollegin versuchten wir zu überschlagen, wie viele Paletten das wohl wären. „Da sind so etwa drei LKWs, glaube ich“, meinte die Logistikerin der Organisation, die das Toilettenpapier auf Bitte des Camp-Managements requiriert hatte. Ach du liebe Zeit, das ist eine Menge Klopapier!

    Noch bevor irgendwer es verteilen kann, gibt es Beschwerden: „Warum fragt uns denn keiner, was wir wirklich brauchen“, meldet sich ein Flüchtlings-Komitee, das sich zur Corona-Vermeidung zusammengefunden hat, auf Facebook. „Die meisten von uns kommen aus Ländern, in denen kein Toilettenpapier verwendet wird, sondern Wasser. Sorgt mal lieber dafür, dass wir ausreichend Wasser haben, anstatt uns mit euren unsensiblen Vorstellungen zu beleidigen!“ Und natürlich hätte eine kleine Anfrage des Camp-Managements bei irgendeinem Bewohner oder irgendeiner Hilfsorganisation schon ergeben, dass Klopapier nicht wirklich benötigt wird! Andererseits - die Menschen in Moria zeigen ja an genügend Stellen ihre Kreativität; ausgerechnet bei der Verwendung von Toilettenpapier werden sie sich sicher nicht an den ursprünglichen Verwendungszweck halten: sie verwenden das Papier als Küchenrolle, als Taschentücher für die Rotznäschen ihrer Kinder, als Handtücher… Nach einer kurzen Diskussion wird entschieden, das Klopapier trotzdem auszugeben und darauf zu vertrauen, dass es nicht in den Toiletten landet und die Kanalisation überfordert. (In Griechenland gilt generell, auch in meiner Wohnung, dass Toilettenpapier in einen Eimer neben dem Klo geworfen wird.)

    Mit meiner Hilfsgüter-Kollegin und verschiedenen anderen Akteuren denke ich also noch die Massenverteilung an und verabschiede mich dann für eine Woche nach Athen, während sie die letzten Details klärt und alles vorbereitet. Ich schaffe es tatsächlich, ein paar Tage Abstand von der Insel zu nehmen und treffe mich, wenn ich nicht gerade mit ausgiebigen Spaziergängen im Nationalpark beschäftigt bin, zu Strategie-Gesprächen mit meinen griechischen Chefs in der Hauptstadt. Wobei, wie wir ja inzwischen wissen. alles Planen für Moria nur sehr vorläufig sein kann, weil nichts berechenbar ist.

     

    Während ich in Athen durchatme, kehrt Moria ein Stück weit zum Vor-Corona-Chaos zurück. Die Ausgangssperre für die Moria-Bewohner war zunächst um zwei Wochen verlängert worden, nachdem der Rest der Bevölkerung sich schon wieder recht frei bewegen konnte. Gestern kam dann die Nachricht, dass unsere Migranten noch länger, nun bis zum 7. Juni, das Camp grundsätzlich nicht verlassen dürfen. Was besonders fatal ist, denn seit dieser Woche arbeiten die Asyldienste wieder: Am Montag haben sie an einem einzelnen Tag an 1800 Asylbewerber einen abschlägigen Bescheid ausgegeben. Diese Leute haben nun zehn Tage Zeit, in Berufung zu gehen - aber dazu brauchen sie von Rechts wegen einen in Griechenland zugelassenen Anwalt. Von denen gibt es auf der Insel nur sehr wenige. Auch die juristischen Hilfsorganisationen, die durch die Unruhen im März und die Corona-Reisebeschränkungen personaltechnisch genauso dezimiert sind wie wir, können so vielen Menschen, die plötzlich gleichzeitig Rat brauchen, kaum helfen. Zumal wegen der Ausgangssperre nicht gesagt ist, dass ein Geflüchteter, selbst wenn er einen Termin bei einem Juristen in der Stadt hat, das Lager wirklich verlassen kann - es gibt bestimmt irgendein Formular, das er nicht ausgefüllt, irgendeine Liste, in die er sich nicht eingetragen oder irgendeine Erlaubnis, die er nicht eingeholt hat. 

     

    Das war, wie gesagt, am Montag. 

    Gestern, am Donnerstag, wurde dann den im Camp arbeitenden Hilfsorganisationen ein neuer Bescheid verkündet: In den halb-legalen Bereichen außerhalb des eigentlichen Lagers darf nichts mehr gebaut werden. Die Anlagen und Gebäude (auch die Triage-Station der letzten Wochen und die Isolierstation, an der meine GAiN-DART-Kollegen mitgebaut haben), die schon existieren, dürfen weiter genutzt werden, aber alle weitere Bautätigkeit wird als Straftat verfolgt. Das bedeutet, dass in den Olivenhainen rund ums Camp keine weiteren Generatoren oder Sanitärcontainer aufgestellt werden können, dass keine neue Essensausgabe eingerichtet werden kann, die das Hauptcamp entlasten würde. Der „Dschungel“ bleibt unentwickelt - man will wohl verhindern, dass sich das Lager in seiner neuen Größe stabilisiert. Andererseits hat die Regierung laut Medienberichten in den letzten Wochen Erkundigungen eingezogen, wie viel Land ums Camp herum gepachtet werden könnte, um Moria massiv zu erweitern und bei der Gelegenheit auch neu einzuzäunen. Dann hätten wir ganz offiziell ein riesiges Lager und bräuchten die entsprechende Infrastruktur erst recht. Wie diese Beschlüsse zusammengehen? Ich weiß es nicht!

     

    Heute, am Freitag, kam dann ein weiterer Beschluss: Alle Bewohner von Moria, deren Asylantrag bewilligt wurde, sollen bis zum 1. Juni das Camp verlassen. Es gibt tatsächlich einige hundert Einzelpersonen und Familien, die ein Bleiberecht in Griechenland haben, aber keine andere Bleibe als Moria kennen. Sie bleiben einfach in ihren Quartieren, und wir haben uns bisher geweigert, sie von dort zu vertreiben, obwohl wir den Platz gerne für andere verletzliche Menschen verwenden würden. Aber diese anerkannten Asylanten sind nun auch eine extrem verletzliche Gruppe! Nur ganz wenige werden bei einem Programm angenommen, das ihnen einige Monate lang wenigstens Mietzuschüsse zahlt, aber wie sie überhaupt eine Wohnung oder Arbeit finden, Griechisch lernen, kurz gesagt: überleben sollen, wird nicht weiter definiert. Sie werden quasi von einem Moment auf den anderen obdachlos und bekommen auch keine monatlichen Gelder mehr. Unter den rund 2000 Menschen, die das betrifft (ich vermute, es sind auch Leute von den anderen Inseln mitgezählt), sind einige Frauen aus unserem geschützten Bereich. Manche von ihnen sind vor häuslicher und sexueller Gewalt aus ihren Heimatländern und vor ihren Clans geflüchtet, dann auf der Reise, erst recht in der Türkei, wieder zu Opfern geworden und haben in Moria in den „Sections“ für die unbegleiteten Frauen zum ersten Mal seit langem einen Ort, an dem sie sich halbwegs sicher fühlen können. Die Vorstellung, dass sie einfach auf der Straße landen, wenn dieser Bescheid durchgesetzt wird, macht mich so hilflos, wütend und traurig, dass mir die Worte fehlen. Ich werde natürlich mit meinem Team überlegen, wie wir das schlimmste Leid wenigstens lindern können, aber unsere Ressourcen und Möglichkeiten sind begrenzt, erst recht außerhalb von Moria.

    Es wundert mich, dass es im Camp nicht zu mehr Unruhen kommt; so langsam muss sich bei den Bewohnern doch der Gedanke festsetzen, dass sie nicht mehr viel zu verlieren haben. 

     

    Noch während ich diesen Beitrag, auf dem schönen Balkon eines Athener AirBnBs sitzend, verfasse, bekomme ich über meine diversen Chats die neuesten Meldungen mit: eben kam es bei einem Streit zwischen zwei Afghaninnen Anfang zwanzig zu einer Messerstecherei. Unser Schichtleiter, der vor Ort war, meldet, das Opfer wäre im Krankenwagen abtransportiert worden, der Polizeichef dagegen schreibt, die junge Frau wäre noch am Tatort verstorben und die Täterin festgenommen worden. Manchmal weiß man nicht, was nun wirklich stimmt - ich werde mal nachschauen, was ich morgen online herausfinden kann. Wobei Medien seit dem Lockdown auch nicht mehr alles mitbekommen… 

     

    Die junge Afghanin wäre, wenn ich richtig mitgezählt habe, seit November das fünfte Todesopfer durch Erstechen in Moria. Daneben gab es das Kind, das bei dem Brand vor einigen Wochen umkam, und den Iraner, der sich im Abschiebegefängnis das Leben nahm. Eines halbwegs natürlichen Todes ist in dieser ganzen Zeit, soweit ich weiß, nur ein einziger Mann gestorben: ein Endzwanziger an einem Schlaganfall. 

    Dienstag, 5. Mai 2020

    Griechisches Ping-Pong

    Ich glaube, ich brauche eine Pause. Heute habe ich nachgerechnet, dass ich seit neun Wochen hier bin und trotz allen Krisen, von einigen ruhigen Wochenenden abgesehen, keine Pause hatte. Wir arbeiten ja auch an den Feiertagen - und von denen gibt es in Griechenland viele! - ganz normal durch und für gewöhnlich gönne ich mir zur „Halbzeit“ eines dreimonatigen Arbeitsabschnitts ein paar Tage in irgendeinem Hotel auf der Insel oder in Athen. Das war wegen der strengen Ausgangssperre und der Reisebeschränkungen diesmal nicht möglich. Dazu kommt, dass mein Arbeitsabschnitt sich wegen Corona diesmal auch automatisch verlängern wird: Statt bis Ende Mai werde ich wohl bis August hier bleiben, und ich merke, dass ich meine Kräfte anders einteilen muss. Ich bin ein bisschen erschöpft.

    Es ist für uns alle eine besondere Situation, wie aus unseren Kurzzeitlern über Nacht Langzeitler wurden, weil ihre Unis eh geschlossen waren oder sie ihren Job zu Hause verloren haben, und wir genießen die Beständigkeit, die ein festes Team von Helfern bringt. Normalerweise ist das Kommen und Gehen von Ehrenamtlichen ein prägender Teil unserer Arbeit. Diesmal bleiben alle länger und das ist toll; aber wie schaffen wir es, dass auch sie die nötigen Pausen bekommen?

     

    In der letzten Woche haben mich so viele Dinge genervt und belastet, dass ich mich frage, ob ich nur dünnhäutiger bin oder ob wirklich besonders viel Anstrengendes passiert ist. Aber der Reihe nach…

    Seit Donnerstag spielen wir Quarantäne-Ping-Pong mit einem Flüchtling, der in Moria gewesen war, dann aus irgendeinem Grund nach Athen reiste und anschließend zurück nach Lesbos kam. Er wurde auf Covid-19 getestet und sollte dann im Krankenhaus das Ergebnis abwarten. Oder doch nicht. Oder vielleicht doch? Die Quarantäne-Stationen fürs Camp sind noch nicht fertig. Mehrmals ging die Anweisung an uns, ihm einfach ein Zelt in die Hand zu drücken und ihn in den Olivenhain neben dem Camp zu schicken mit der Auflage, erst nach Beendigung seiner Quarantänezeit zurückzukommen. „Das können wir doch nicht machen!“, protestierten meine Kollegen. „Keiner kann sicherstellen, dass er sich nicht doch frei im Camp bewegt, und wenn er das Virus mitbringt…“ Wir wollten damit nichts zu tun haben! Irgendwann fragte meine Kollegin bei den Camp-Ärzten nach, was sie empfehlen würden. „Ach ja, dem Mann aus Athen haben wir ein Zelt gegeben“, meinten die. Als sie am Montag noch einmal fragte, was denn nun aus dem Mann geworden sei und wo man ihn nun finden könnte, waren die Ärzte überrascht. Nein, einen Mann, der in Quarantäne sein sollte, kannten sie nicht. Wo sollte der denn sein? Es gäbe doch gar keine Quarantäne-Station in Moria? Genau. 

    „Frag mal bei der Polizei nach“, schlug ich der ratlosen Kollegin vor. Wenige Minuten später rief sie zurück und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte: „Ja, der Mann ist hier. Der Polizeichef hat ihn in einen Bürocontainer gesperrt und vergessen.“ „Aber das ist doch super!“, freute ich mich, „dann soll er dort doch bleiben! Wir bringen ihm sein Essen, und wenn er mal aufs Klo muss, kann einer von der Polizei mit ihm gehen…“ „Nein“, sagte die Kollegin, „der Polizeichef sagt, das wäre illegal.“ In Moria ist doch fast nichts legal, dachte ich müde, aber ausgerechnet hier wird eine Grenze gezogen?!?

    Wir fanden doch noch ein gut gesichertes Plätzchen für den Mann, und zwei Tage später kam die Nachricht, dass der Test negativ gewesen war und er nun ins Camp wechseln konnte. Wir brachten ihn unter und hoffen, dass nun wirklich alles in Ordnung ist. Das Ganze hat uns fünf Tage Hilfsorganisations-und-Behörden-Hickhack gekostet.

     

    Dann ist da noch die Geschichte mit den neun Iranern, die seit einigen Tagen von Afghanen angegriffen werden. Offenbar sind in der letzten Zeit in der Grenzregion zwischen Afghanistan und dem Iran einige Afghanen von iranischen Grenzbeamten niedergeschossen worden und nun wird die Rache an unseren Moria-Iranern vollzogen. „Die sind hier nicht sicher“, stellte auch der Polizeichef fest und bat uns, ihnen einen besseren Platz zu finden. Es ist wirklich nicht einfach, in einem sechsfach überfüllten Lager einen neuen Platz für neun alleinreisende Männer - normalerweise nicht gerade die schutzbedürftigste Gruppe! - zu finden, aber unsere Housing-Heldin machte das Unmögliche möglich und organisierte einen anderen Container, in den sie ziehen konnten. „Nein nein!“, wehrten die Iraner ab, „wir wollen nicht innerhalb des Camps umziehen und auch kein stärkeres Schloss für unseren Container: Sobald wir vor die Tür treten, haben wir ja diese ganzen Afghanen gegen uns! Wir müssen aus Moria weg.“ Tja, aus Moria wollen alle weg! Aber außerhalb des Camps haben wir wirklich keine Möglichkeiten. 

    Ich marschierte also, nachdem mindestens fünf weitere Leute mindestens neun weitere Gespräche geführt hatten, zur UN-Flüchtlingshilfe, die Wohnungen außerhalb des Camps anmietet und besonders schutzbedürftige Menschen dort unterbringt. „Wir können da auch so schnell nichts machen“, sagte der Mitarbeiter, der um kurz vor vier immerhin noch zu erreichen war, „ und in einem solchen Fall erst recht nicht. Wenn es ein Sicherheitsproblem ist, fällt das nicht in unseren Bereich. Wir können die Leute ja nicht einfach zu anderen Flüchtlingen in irgendeine Wohnung stecken - und dann sind alle dort gleichermaßen bedroht! Besprich das besser mit der Polizei!“ Na toll, mit der Polizei hatte das ganze Hickhack doch angefangen! Ich taperte also wieder brav zum Polizeichef. 

    Inzwischen sind sechs der neun Iraner mit Sack und Pack in einen kleinen überdachten Bereich neben der Polizeistation gezogen und sitzen dort auf Holzbänken herum, bis einer der Camp-Chefs sie wegscheucht. „Geht zu EuroRelief! Die sollen euch einen neuen Platz geben!“ Ja. Genau das haben wir doch seit zwei Tagen versucht! Die Männer sind hier nicht sicher, wir haben ihre Stichwunden selbst gesehen! Wo sollen sie denn die nächste Nacht verbringen? Muss erst wieder jemand umgebracht werden, bis deutlich genug ist, dass wir hier ein Problem haben? Und es kann doch nicht sein, dass dieses eine Problem über Tage von einem Verantwortlichen zum nächsten geschoben wird?

    Manchmal habe ich den Eindruck, dass das hier die Standardeinstellung ist: dass es eben keine Standardeinstellung gibt. Mit jedem neuen „Fall“ überlegt man ganz neu, wie man damit verfahren könnte. Feste Abläufe oder Protokolle, an die alle sich halten würden, gibt es selten, und das macht das Arbeiten wirklich mühsam. 

     

    Achja, und dann ist da noch unser LKW mit Hilfsgütern, der von der Hafenpolizei festgehalten wurde, weil Hilfsgüter angeblich nicht systemrelevant seien und der LKW damit illegal auf der Insel. Es ist zum Haareraufen! Dieser LKW bringt, neben dringend benötigten Hilfsgütern fürs Camp, Krankenhausbetten für das hiesige Krankenhaus, damit die Insel-Bevölkerung im Fall von Corona besser versorgt werden kann. Eine ganze Woche verbringen die Fahrer wartend in einem unserer Apartments. Mein Bürokollege verbringt fast vier volle Arbeitstage damit, irgendwelche Papiere zu besorgen und nachzuweisen, dass Krankenhausausstattung in Zeiten einer Pandemie doch irgendwie auch wichtig ist. 

    Vielleicht wirkt die Pandemie zu weit weg; Griechenland hat durch seine drastischen frühen Maßnahmen dafür gesorgt, dass es bisher erstaunlich wenig Tote gab. Die Regierung bleibt weiter vorsichtig. Seit dieser Woche ist nun zunächst einmal die Ausgangssperre gelockert; nach fünf Wochen dürfen wir uns nun wieder bewegen, ohne eine Begründungs-SMS an die Regierung zu schicken. Die einheimischen Rechten haben die erstbeste Gelegenheit genutzt, eine neue Straßensperre aufzurichten und den Mitarbeiter einer Hilfsorganisation anzugreifen. Auch eine meiner Helferinnen fuhr durch eine Meute, die sie beschimpfte und auf ihr/unser Auto spuckte. Geht das jetzt wieder los? Heute ging eine Email an die Verantwortlichen aller Hilfsorganisationen, besonders wachsam zu sein. Es gäbe Anhaltspunkte, dass die Angriffe vom März, die durch die Ausgangssperren unterbrochen wurden, nun wieder zunehmen würden. Ich bin schon müde, wenn ich das nur lese. Wir haben einige Wochen lang nur an die Corona-Gefahr gedacht und wider besseres Wissen wohl gehofft, dass das im Moment die einzige Gefahr wäre. 

     

    Die gute Nachricht? Am Sonntag sind die ersten 400 Hochrisiko-Leute tatsächlich evakuiert worden, nachdem der große Transfer letzte Woche verschoben worden war. Es war eine absurd gestapelte Menschenmenge ohne auch nur einen Anschein von Social Distancing, die an einem steilen Hügel neben dem Camp auf ihre Busse wartete. Die Erleichterung all dieser Leute war spürbar. „Super“, seufzte eine Ärztin, mit der ich das Menschengewusel und das Schauspiel des Transports beobachtete, „all die verletzlichsten Leute von Moria auf engstem Raum zusammengedrängt! Da kann man nur hoffen, dass keiner den anderen irgendein Virus entgegenniest!“ 

    All diese Leute blieben auch zusammengedrängt, bis auf Weiteres: Gerade habe ich erfahren, dass „unsere“ Evakuierten zwar die Fähre aufs Festland genommen, dort aber zwei Tage in Bussen festgesessen haben: Das Hotel, in dem sie unterkommen sollten, ist von Anwohnern abgebrannt worden, die die Flüchtlinge nicht haben wollten. Die Polizei hat zugesehen. Dann musste erst einmal ein Hotel gefunden werden, das die Leute auf die Schnelle und unter diesen Umständen aufnimmt. Es sind solche Nachrichten, bei denen sich mir einfach das Herz umdreht. 

     

    Ich glaube, ich brauche eine Pause.

    Donnerstag, 23. April 

    Fieberkurve

    Es gibt Zeiten, an denen wäre es spannend, über das Auf und Ab meiner Emotionen im Lauf eines Tages Protokoll zu führen. An den letzten Tagen würde die entsprechende „Fieberkurve“ ein wildes Auf und Ab zeigen. Von dem geplanten Transfer aufs Festland habe ich ja schon erzählt. Was für eine gute Nachricht - auch wenn sie für uns viel Arbeit bedeutet. Mein wunderbares Operations-Team hat jetzt schon viel Hirnschmalz, Nerven und einige Überstunden in dieses Mammutprojekt investiert, und die ehrenamtlichen Helfer sitzen in den Startlöchern, um es am Wochenende alles umzusetzen. 

    Ein Transfer: das bedeutet, dass wir eine Liste mit Namen und Nummern von Menschen bekommen, die sich in zwei bis fünf Tagen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihrem gesammelten Hab und Gut am Eingang des Camps einfinden sollen, um mit einem Bus auf die Fähre und dann aufs Festland gebracht zu werden. (Manchmal kommt diese Liste auch erst am Morgen des Tages, an dem sie abends auf der Fähre sein sollen, so dass sie nur wenige Stunden haben, um sich von ihren Nachbarn und Freunden zu verabschieden und - buchstäblich - ihre Zelte abzubrechen. Aber das ist eine andere, oft traumatische Geschichte.) Meine „Daten-Kollegin“ verwandelt diese Liste in viele Einzel-Tickets, und dann schicken wir unsere Helfer mit all den Tickets und mit Karten der verschiedenen Zonen des Camps los, um den Glücklichen die frohe Botschaft zu verkünden. Weil viele, vor allem wenn sie außerhalb des Camps wohnen, gerne zu besseren Plätzen ziehen und ihre eigenen Strukturen über ihren Zelten errichten, findet man sie nicht immer sofort. Manche unserer Helfer stellen am Abend beim Blick auf ihren Schrittzähler fest, dass sie auf der Suche nach den „Umziehern“ 10 oder 12 Kilometer gelaufen sind. 

    Noch während die Tickets verteilt werden, schaut meine „Housing-Kollegin“, welche Plätze da gerade frei werden. Wenn es gute Plätze sind - in einem Container, nahe bei den Sanitäranlagen oder doch wenigstens innerhalb des Campgeländes - überlegt sie, wer die freien Plätze bekommen soll. Hier zieht aus einem Container eine fünfköpfige syrische Familie aus, deren Kinder im Teenager-Alter sind. Super! Wir wissen von einer syrischen Familie mit vier kleineren Kindern, die schon seit Monaten draußen im Dschungel in einem Zelt wohnen und sehnsüchtig auf einen besseren Platz warten. Wir halten ihre Daten bereit: An dem Tag, an dem die jetzigen Bewohner ausziehen, werden wir einen Helfer in diesen Container schicken. Er wird den Ausziehenden helfen und den verbleibenden Nachbarn, in diesem Fall eine irakische Familie plus zwei alleinstehenden Tanten, im Container ankündigen, dass nun eine neue Familie kommen wird und dass sie sich bitte nicht selbst auf dem freigewordenen Platz ausbreiten oder irgendwelche Freunde einladen, zu ihnen zu ziehen. Das ist oft mit viel Überzeugungsarbeit verbunden, kostet Nerven und manchmal den Einsatz eines ganzen Tages: Bei besonders uneinsichtigen Nachbarn kommandieren wir auch einmal einen Helfer ab, stundenlang einen freien Platz frei zu halten, bis die neue Familie glücklich einzieht. Und hoffentlich trotz allem mit etwas Freundlichkeit empfangen wird. 

    Ein solcher Transfer umfasst mal vierzig, mal hundert Leute und fühlt sich immer ein bisschen an wie das Musikspiel „die Reise nach Jerusalem“, an dem es viel Bewegung gibt und am Schluss alle an einem anderen Ort sitzen als vorher. (Nur dass im Camp hoffentlich am Ende des Tages jeder einen neuen Platz hat!)

    Der Transfer an diesem Wochenende soll nun also 900 Leute haben, und er umfasst vor allem eben Menschen aus der vulnerablen Bevölkerung, Alte und Kranke, denen wir im Camp nach Möglichkeit gute Plätze zugewiesen hatten. Für meine Langzeit-Kollegen ist das wunderbar: Nach langen Zeiten ohne Abgänge werden nun auf einmal ganz viele der begehrtesten Quartiere frei, und wir kennen alle Familien und kranke Leute, die auf diese Chance eines Umzugs gehofft haben. Wir freuen uns mit ihnen - und nehmen die riesige Arbeit gerne in Kauf. „Ich hab in der Zeitung was von 1500 Leuten gelesen“, meinte mein Chef vorgestern, als ich von unseren Vorbereitungen erzählte. „Nee“, hab ich ganz zuversichtlich widersprochen. „Die Zeitungen kriegen die Zahlen von Werweißwem. Aber die eigentlichen Listen von der Asylbehörde - die kriegen wir! Und da sind es nur 900.“ Von wegen „nur!“ - denke ich leise. Das ist so ziemlich der sportlichste Transfer, den ich bisher miterlebe, und das bei deutlich limitierter Helferzahl. Ich habe mich auch schon für eine Schicht am Wochenende eingetragen, es werden alle Mann an Deck gebraucht.

     

    Heute morgen, die Schicht hat gerade erst begonnen, steht die Meldung der Daten-Kollegin in unserer Operations-Chatgruppe: „Ich habe gerade eine neue Liste von 841 Leuten bekommen, die übermorgen verlegt werden sollen.“ „Das ist ein Witz, oder? Die haben nur vergessen, dass sie uns schon die Liste geschickt haben“, hofft einer. „Sag uns, dass das nicht wahr ist!“, bettelt die andere. Aber es ist wahr: Es ist eine zusätzliche Liste. Über 1700 Menschen an einem Tag - die ganze vulnerable Bevölkerung - sollen tatsächlich verlegt werden. Wir holen alle tief Luft, und die Kollegen fangen an, das Unmögliche möglich zu machen. Ich stecke meinerseits in Besprechungen fest und komme erst gegen Mittag ins Camp. „Wusstest du es schon?“, begrüßt mich der Vertreter der syrischen Araber. „Wir werden verlegt!“ Er ist ein würdevoller und gleichzeitig verschmitzter älterer Herr, der auch in seiner Heimat sicher ein Patriarch mit hohem Ansehen war. Er ist seit einem guten halben Jahr hier, hat immer besser Englisch gelernt - und dieses Englisch benutzt, um für seine Leute zu kämpfen.  Hier und heute ist er froh, dass er als besonders schutzbedürftig eingeschätzt und verlegt wird. Ich freue mich für ihn, auch wenn ich ihn ein bisschen vermissen werde. In so vielen Meetings waren wir zusammen frustriert - jeder auf seine Weise.  

     

    Auch Massoud hat ein Ticket bekommen. Ich habe den Syrer mit den leuchtenden Augen und seine schöne Frau - beide Ende zwanzig - vor einigen Monaten kennengelernt, weil sie sich rührend um eine Mitbewohnerin in ihrem Container kümmerten, die schwer an Krebs erkrankt war. Sie hatten mich genötigt, zum Abendessen zu bleiben: Reis mit Hühnchen und Gemüse, gegessen von einer Plastiktüte auf dem Boden eines schäbigen Containers. Es war lecker und einer der schönsten Abende, die ich bisher im Camp hatte.  „Danke, dass ihr euch so einsetzt“, hatte ich damals zu Masoud gesagt. „Gott segne euch dafür!“ Ich ging davon aus, dass sie fromme Muslime waren - sie stammten aus einer der Städte, in denen der IS sein Kalifat mit besonderer Grausamkeit durchgesetzt hatte - aber zu meinem Erstaunen outete sich Massoud als Abtrünniger. „Ich bin ein Nachfolger von Jesus“, flüsterte er mir zu, als niemand anderes es hören konnte, und es stellte sich heraus, dass er schon als Teenager im Geheimen Christ geworden war. Nachdem sein Vater ihn deswegen halbtot geschlagen hatte, hatten die beiden beschlossen, dass es wohl sicherer und für die Familienehre besser wäre, wenn niemand von Massouds Konversion erfahren würde. Auch seine Frau wusste nichts - bis vor kurzem. Natürlich war sein Geheimnis bei mir sicher, aber irgendwer musste es dann doch herausgefunden haben: Massoud wurde von vier vermummten Männern mit Messern bedroht, seine Frau wollte sich scheiden lassen, und die beiden waren nicht einmal mehr sicher, ob sie ihren Asylantrag zusammen oder getrennt stellen würden. 

    Nun werden sie also verlegt - zusammen. Ich hoffe sehr, dass die beiden wieder zusammenfinden. Sie sind ein Paar mit einer solchen Ausstrahlung, dass mir die Vorstellung das Herz bricht, dass sie getrennte Wege gehen.

    Auch andere, mir völlig Fremde, rufen mir zu: „Frau EuroRelief! Wir gehen nach Thessaloni!“ „Hast du gehört, my friend? Meine Familie kommt in Sicherheit“ Vor Leichtigkeit und Freude mit all den Leuten hüpfe ich fast durchs Camp zu unserem Büro-Container .

     

    Im Container geht es zu wie in einem Bienenschwarm, in dem alle emsig arbeiten. Aber es ist ein fröhliches, erwartungsvolles Arbeiten: Wir helfen all diesen Menschen, zu einer hoffentlich besseren Bleibe zu kommen! Als ich zu einem weiteren Meeting verschwinde, lese ich eine neue Nachricht im Büro-Chat: Der Transfer sei abgeblasen. 

    Mit bleibt fast das Herz stehen. Das kann doch nicht wahr sein? „Gibt es zu dem Transfer eine definitive Info?“, frage ich den Vertreter des Camp Managements, der mit in meinem Meeting ist. Er windet sich. Der Ärmste. Er hat die Entscheidung ja nicht getroffen. Ja… Weil es in den letzten Tagen auf dem Festland wieder einige neue Corona-Fälle gegeben hat - unter anderem in einem Hotel, in dem viele Flüchtlinge untergebracht waren - möchte man nichts riskieren. Dass das Hotel längst unter Quarantäne gestellt wurde und „unsere“ Moria-Flüchtlinge auch ganz woanders untergebracht werden sollte - wer fragt schon nach Logik? Außerdem, so scheint jetzt erst jemand bemerkt zu haben, entspricht es nicht den Corona-Richtlinien, 1700 Leute zusammen auf die Fähre zu schicken. Der Sicherheitsabstand ist nicht gewährleistet. Ich verschlucke mich fast. Der Sicherheitsabstand war doch auch in Moria nicht gewährleistet, all diese Menschen haben doch seit Monaten aufeinandergehockt - und nun soll die Fähre das Problem sein?!? 

    Der neue Plan: Ab nächstem Samstag sollen jeweils 400 Menschen pro Wochenende verlegt werden; bis die letzten Hochrisiko-Menschen Moria verlassen haben, vergehen also noch mindestens fünf Wochen. Wenn nicht zwischendurch alles wieder umgeworfen wird. This is Greece. Das Büro vom Camp Management schickt eine Nachricht an unser Büro: Es tut ihnen furchtbar leid, und sie wissen, wieviel Mühe wir mit dem Transfer hatten. Sie können auch nichts machen. Sie danken uns trotzdem. Es ist nett, dass sie unsere Arbeit schätzen, aber die Enttäuschung sitzt tief.

     

    Auf dem Rückweg von meinem Meeting schleiche ich niedergeschlagen durchs Camp. Ich hoffe, niemand spricht mich freudestrahlend an, dass er nun endlich hier weg kommt. In den nächsten Stunden wird mit Lautsprecherdurchsagen und durch die Vertreter der Volksgruppen die schlechte Nachricht bekannt gegeben. Ich hoffe so sehr, dass aufgeschoben wirklich nichts aufgehoben bedeutet und die Leute es einfach etwas später als erwartet doch noch aufs Festland schaffen. Möglichst vor Corona. Und ich hoffe, dass es nicht zu Unruhen kommt. In den letzten Wochen lag eine Grundanspannung und eine latente Gewalt in der Luft, und man weiß nicht, in welche Richtung sie sich als nächstes entlädt. Die Ausgangssperre tut den Bewohnern von Moria nicht gut. In den letzten Tagen sind im Dorf Moria Schafe gestohlen und ein Hund getötet worden. (Es erinnert mich daran, dass ich mich wahrscheinlich zur Mittäterin mache, wenn ich mir zum Mittagessen bei einem der Imbissstände im Camp Reis mit Lamm hole. Bestimmt hat der Koch es nicht beim Metzger des Dorfes gekauft. Er kommt ja gar nicht mehr offiziell zum Einkaufen aus dem Camp, selbst wenn er es wollte!) Wohl als Vergeltung - naja, wer weiß schon, ob sie wirklich die Täter waren - haben nun zwei Flüchtlinge Bekanntschaft mit der Schrotflinte eines einheimischen Bauern gemacht: Über 200 Schrotkugeln hat man dem einen im Krankenhaus aus dem Rücken gepuhlt und 70 aus dem Hinterteil. Wenn sich jetzt zu den Steinen und Messern auch noch Schusswaffen gesellen, kann das ja heiter werden. 

    Dazu kommt: ab morgen ist Ramadan. Was eine Zeit für Besinnung und Ausrichtung auf Gott sein sollte - und es für viele auch ist! -, hat im Lager ganz unterschiedliche Auswirkungen. Ich erinnere mich vom letztem Jahr her noch gut daran. Manche, die fasten, bleiben großteils in ihren Quartieren, so dass es ingesamt weniger wuselig zugeht und sich eine träge Schwerfälligkeit auf das Camp heruntersenkt. Andere machen es sich zur Aufgabe, die zu ermahnen, die ihrerseits nicht fasten. Das kann von freundlichen Aufforderungen, die Religion doch bitte ernster zu nehmen, über Beschimpfungen und Drohungen bis zu offener Gewalt reichen. Ab der zweiten Ramadanwoche haben viele dann für sich eine Entschuldigung gefunden, warum sie in diesem Jahr nicht fasten müssen: Reisende müssen bekanntlich nicht fasten, und Moria kann man guten Gewissens als Zwischenstop auf einer Reise deuten, nicht als Endziel. 

    Wie sich diese unterschiedlichen Dynamiken in diesem Jahr auswirken - wir müssen es abwarten. 

    Dienstag, 21. April 2020

    Päuschen

    Manchmal sind keine Nachrichten gute Nachrichten! Ich habe beim Bloggen eine kleine Pause eingelegt. Nach den extrem anstrengenden März-Wochen war der Lock-Down für mich persönlich keine ganz schlimme Zeit: Mehr von zu Hause zu arbeiten und weniger Mitarbeiter im Camp zu haben, bedeutete, Dinge langsamer angehen zu können. Es gab mehrere Wochenenden hintereinander ohne Notfälle, zu denen ich ins Camp gerufen worden wäre, und, ganz ehrlich, ich habe mir diese ruhigere Zeit nun auch gegönnt und sogar einige Mittagsschläfchen! Es wird schon wieder wilder werden, und dann werde ich dankbar sein um jedes bisschen Ausgeruht-Sein, das ich in die nächste Phase mitbringe. 

    Ein paar gute Sachen sind passiert: Letzte Woche sind einige "unserer" Kinder und Minderjährigen nach Luxemburg und Deutschland ausgeflogen worden. Eines Morgens stand ein griechischer Mitarbeiter in unserem Container mit ein paar Namen und Nummern von Jugendlichen, die nicht im geschützten Bereich innerhalb des Campgeländes leben, sondern draußen im Olivenhain. Weil wir die Datenbank mit allen Unterkünften und Bewohnern pflegen und diese trotz allem Durcheinander der letzten Monate doch noch zu rund 80% zuverlässig ist, sind wir immer die erste Anlaufstelle, wenn irgendjemand gesucht wird. Diesmal eben eine kleine Auswahl von Minderjährigen. Ich freue mich, sie abends in der Tagesschau zu sehen - es ist irgendwie lustig, auf der anderen Seite der Nachrichten schon vorher mitzubekommen, was passiert!

    Diese Woche gibt es eine weitere gute Nachricht: die Hochrisiko-Gruppen sollen am Wochenende aus dem Camp aufs Festland gebracht werden, es werden rund 900 von insgesamt 1500 sein, wenn man Familien oder, bei den älteren Leuten, eine Begleitperson mitrechnet. Es hat Wochen gedauert, bis UNHCR und die Behörden das ausgehandelt hatten, und wir sind so dankbar, dass es nun endlich passiert! Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, all diese Leute zu evakuieren, bevor das Virus im Camp aufschlägt, niemand mehr rauskommt und gerade bei dieser Personengruppe die schweren Verläufe der Krankheit zu erwarten sind. Bisher sind wir verschont geblieben. Es gibt trotz aller gegenteiligen Vorhersagen bis heute keinen bestätigten Fall im Camp. Gott sei Dank! 

     

    Daneben gibt es die üblichen Moria-Probleme: Vorletzte Woche ist bei einer Messerstecherei ein 16Jähriger umgekommen. Seine Landsleute, afghanische Hazara, haben deswegen einige harmlos verlaufende Demonstrationen veranstaltet und mehr Polizei und Sicherheit gefordert. Heute haben sie mit einer Sitzblockade auf der Straße vor dem Camp den Lieferwagen mit dem Essen für immerhin noch knapp 18.000 Menschen mehrere Stunden aufgehalten. Dass drinnen alles ruhig blieb, war nicht selbstverständlich…

    Und die Moria-Bewohner können das Camp nur noch mit Sondererlaubnis verlassen und nachdem sie sich in eine Liste eingetragen haben; auch einkaufen ist schwierig geworden. Wer ohne Erlaubnis oder ohne das übliche Formblatt erwischt wird, zahlt 150 Euro Strafe; das gilt auch für Flüchtlinge, die von diesem Formblatt erst im Nachhinein hörten und dachten, die Liste sei ausreichend. Dabei haben die wenigsten noch Bargeld:  Zwischenzeitlich wurden ihre Geldkarten, die normalerweise monatlich mit 90 Euro pro Erwachsenen aufgestockt werden und mit denen sie dann an Bankautomaten Geld abheben können, eingefroren, um zu vermeiden, dass die Leute wieder in großer Zahl in die Stadt und zu den Geldautomaten gehen. Inzwischen bekommen sie wieder Geld auf ihre Karte, sollen aber immer noch nicht in die Stadt. Immerhin können sie bei ein, zwei Supermärkten im Campbereich mit Karte zahlen. Dass diese Supermärkte hoffnungslos überfüllt sind und sich die Menschen, mangels Alternativen, in ihnen knubbeln müssen… - über manchem Paradox könnte man graue Haare bekommen. 

    Mit unserer Ausgangssperre sind wir inzwischen in der fünften Woche angekommen. Wir sind gespannt, ob und wann es Lockerungen geben wird, wie die aussehen werden und was das für unsere Arbeit und für das Camp bedeutet. Aber im Moment bin ich ganz dankbar, wenn einfach nur alles halbwegs ruhig bleibt…

    Dienstag, 30. März 2020

    Zwischen den Welten

    Im Moment komme ich mir vor, als sei ich zwischen zwei Stühle gerutscht. Ich hänge zwischen zwei Welten fest. Die eine Welt, das ist die, wie sie ganz ähnlich meine Familie, Kollegen und Freunde in Deutschland erleben - eine Welt im Lock-Down. Wenn ich das Haus verlasse, brauche ich ein Formular, das mir erlaubt zur Arbeit im Camp zu gehen, oder ich muss eine SMS an eine zentrale Nummer schicken, dass ich eine Stunde einkaufen oder in der Apotheke bin. Auch Spazierengehen ist erlaubt - nach Anmeldung. Mein Kollege hat 150 Euro Strafe bezahlt, weil er eine Viertelstunde länger unterwegs war als in seinem Formular angegeben. 

    Ich komme auf dem Weg zum Camp an einer Straßensperre der Polizei vorbei, zeige mein Formular oder winke mit meinem Namensschild, krame nach meinem Personalausweis und parke mein Autos dann in einiger Entfernung vom Camp bei einer weiteren Polizeisperre. Ein bisschen fühlt es sich an wie im Irak 2014, als ständige Check-Points das Durchkommen mühsam machten. Nur dass die griechischen Polizisten nicht bewaffnet und meistens ziemlich gelangweilt sind. Viele kennen mich inzwischen und winken mich durch.

    Im Camp sieht der Lock-Down ein bisschen anders aus. Die Plakate, doch bitte ausreichend Abstand voneinander zu halten, nehmen sich fast niedlich aus neben der Essensschlange oder vor der Windelausgabe, in der sich alle drängeln. Immerhin gibt es im Camp und ums Camp herum nun einige primitive, aber effektive Handwaschstationen: 70-Liter Plastikfässer mit Hahn, betrieben von sehr engagierten Camp-Kindern, die mir Flüssigseife in die Hand geben, den Hahn auf- und zudrehen und mir dann freundlich kichernd zwei Papiertücher in die Hand drücken, zum Abtrocknen. Wir halten unsere Helfer an, sich dort immer die Hände zu waschen - schon um mit gutem Beispiel voranzugehen. 

    Nach der Arbeit in Moria geht es sofort nach Hause. Immerhin bekommen wir im Camp noch genügend Bewegung; man ist ja ständig auf den Beinen! Aber viele der Dinge, die früher einen Ausgleich zur emotionalen Anspannung im Camp geschaffen haben, sind gerade nicht möglich: mit Freunden im Café am Hafen sitzen; in kleinen Grüppchen am Strand entlang promenieren, Bekannten auf der kleinen Insel ganz selbstverständlich über den Weg laufen und auf ein Schwätzchen stehen bleiben…  Ich merke, dass ich mir, genau wie die Freunde zu Hause, Zeit und Raum geben muss, mich auf dieses neue Normal einzustellen. Das kostet Kraft. Es ist Ausnahmezustand. Weltweit.

     

    Aber daneben ist noch die andere Welt, das andere Normal, das gleichzeitig auch schon immer Ausnahmezustand war: Moria. Heute war wieder einer dieser Tage, an die man sich einfach nicht gewöhnen möchte. Schon in der vergangenen Nacht hat es einen Streit zwischen zwei verfeindeten afghanischen Volksgruppen gegeben („Das war kein Kampf! Das war Krieg!“, um es mit den Worten eines unserer ehrenamtlichen Camp-Übersetzer zu sagen.) Die Polizei sorgte irgendwann für Ordnung - mit Tränengas, wenn man den Berichten glauben darf. Heute morgen sind einige unserer Helfer mit Klebeband, Nadel und Faden losgezogen, um die Schäden zu reparieren: In vielen aus Planen und Paletten selbst gebauten „Strukturen“, in denen Familien mit kleinen Kindern zu schlafen versuchten, sind Steine gelandet, Planen sind zerfetzt; große Messerschnitte haben Zelte unbrauchbar gemacht. 

    Am Vormittag zogen dann einige Dutzend Afghanen durchs Camp in einem Marsch für Frieden - sie haben all die Kämpfe ja auch leid, rufen nach mehr Polizei und geraten mit der Polizei dann doch immer wieder aneinander. Noch während sie an einer Seite des Camps unterwegs waren, ließ ein Dutzend Araber auf der anderen Seite die Messer blitzen. Wir zogen unsere Helfer aus diesen Bereichen ab, gaben der Polizei Bescheid und hofften, dass sich alles irgendwie beruhigen würde. Man weiß am Ende nie, welches Fass dann tatsächlich überläuft: Noch während wir uns um die messerschwingenden Araber sorgten, rannten zwei Gruppen von Afghanen mit Äxten und Metallstangen, zwei- oder dreihundert Leute, kreuz und quer und offenbar auf der Jagd aufeinander durchs Camp. Ein versprengtes halbes Dutzend, bewaffnet mit Hacken und Zeltstangen, begegnete auch mir, als ich mich auf einem Schleichweg zur Polizeistation durchzuschlagen versuchte, aber sie waren genauso überrascht wie ich und ließen mich einfach passieren. Die eindrucksvoll blutende Wunde am Kopf, für die ich mich von den Kollegen später ausgiebig bemitleiden ließ, stammte nicht aus einer direkteren Begegnung mit einer Hacke, sondern daher, dass ich beim Wegrennen an einen rostigen Nagel gestoßen bin…

     

    Nun stehe ich mit unserem jungen Schichtleiter auf einem Container mitten im Camp, in der Gesellschaft von ein paar afghanischen UAMs (Unbegleiteten Minderjährigen) und Afrikanern verschiedenster Herkunft, die ein bisschen von der Action mitbekommen möchten. Unser Team haben wir evakuiert, und die Polizei hat die Streitenden aus dem Camp heraus auf einen Hügel getrieben und dann allein gelassen, um welche Sache auch immer untereinander auszumachen. Wir können sie durch einige Sträucher hindurch beobachten: wie sie einander mit Steinen bewerfen, wie mal die eine Gruppe, mal die andere vorprescht. Wir hören die Schlachtrufe und Beschimpfungen. Wir sehen sechs Männer, die einen Verletzten in einem Tuch durch den Olivenhain hin zur Straße tragen, und den Krankenwagen, der ihn einsammelt. Wir sehen drei weitere Männer, die heftig am Kopf bluten und sich zur einzigen Arztstation schleppen, die ihre Leute nicht evakuiert hat. Daneben die Bereitschaftspolizei, die abwartet und gemütlich eine Runde Kaffee trinkt, die ein Kollege vorbeibringt. 

    Unsere Nachmittagschicht bringen wir für eine verkürzte Schicht doch wieder ins Camp. Solange die Streithähne außerhalb bleiben, können unsere Leute drinnen ja Essen ausgeben, minderjährige Jungs mit Panikattacken beruhigen und alleinreisende Frauen davon abhalten, sich das Leben zu nehmen. Alltag in Moria.

    Am Spätnachmittag sind die Kämpfer vom Hügel so müde, dass sie sich in ihre Zelte und Container zurückziehen. Bis zum nächsten Mal. Nur ein ansehnlicher Haufen handgroßer Steine zeugt davon, dass es viel mehr Verletzte hätte geben können. 

     

    Stecken bleibe ich auch ein bisschen zwischen den beiden Welten von Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart, das sind die handfesten, eigentlich täglichen kleinen und großen Krisen, die unser Arbeiten in Moria ausmachen. So wie heute. Unser Operations Team und die verbleibenden rund dreißig ehrenamtlichen Helfer leisten Großartiges, um unter immer schwereren Bedingungen zu tun, was noch möglich ist. Eigentlich braucht die Gegenwart schon alleine mehr als unsere volle Aufmerksamkeit.

    Aber da ist ja noch die Zukunft: das sind die Corona-Szenarien, wie sie in den Treffen der Behörden und Hilfsorganisationen immer präsenter werden, bei denen ich meine Organisation vertrete. Es gibt ja inzwischen genügend „Anschauungsmaterial“ aus Italien und Spanien, mit was zu rechnen ist, wenn das Virus ungebremst auf die Menschheit trifft. Seit gestern haben wir acht bestätigte Fälle auf der Insel, darunter waren eine ältere Dame, die eher zufällig auf das Virus getestet wurde, und eine Krankenschwester. Was ist, wenn Corona im Camp ankommt und sich, wie zu vermuten ist, rasend schnell ausbreitet? Wo können Schwerkranke versorgt werden? Mit wie vielen Toten müssen wir rechnen, und wer wird sie beerdigen - erst recht solange die Ausgangssperre herrscht? Wer wird sich um die Essensausgabe und die Betreuung der Kranken kümmern? Wer um ihre medizinische Versorgung, wenn immer weniger Ärzte und Krankenschwestern ums Camp herum arbeiten? Wie bereiten wir unsere jungen ehrenamtlichen Helfer auf diese nächste Phase vor, und wer von ihnen wird dann noch dabei sein? Wie betreuen wir am besten die eigenen Leute, die, wenn wir ehrlich sind, jetzt schon einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind? Wir passen Notfallpläne ständig an, und es ist gut, die Gedanken auf das zu richten, was man ein Stück weit mit beeinflussen kann. Und es ist irgendwie surreal, diesen Zukunftsfragen nachzugehen, wenn ich nach der Arbeit im Camp bei strahlendem Frühlingswetter auf meinem Balkon sitze und aufs Meer hinausschaue. 

    Und doch: Seit einigen Wochen breitet sich beim Gedanken an die nächste Phase eine gewisse Schwere in mir aus, die ich immer weniger abschütteln kann. Was werden die nächsten Wochen aus Moria, aus seinen Bewohnern und aus uns allen machen?

    Sonntag, 22. März 2020

    Der Letzte macht das Licht aus

    „Es ist gerade alles ein bisschen viel“, schnieft meine amerikanische Nachbarin, als ich gestern zum Abschiednehmen auf ein paar Minuten bei ihr vorbeischaue. Ihr Mann und sie haben seit letztem Sommer in einem Projekt einen halben Kilometer vom Camp entfernt gearbeitet, in dem Duschen und Waschmaschinen für Frauen und Kinder angeboten wurden, in letzter Zeit auch Englisch-Unterricht und Life Skills für alle.  Ich kenne die Arbeit gut und die Liebe, mit der dort über Jahre eine tolle Arbeit aufgebaut wurde. Vor zwei Wochen ist das Team wegen der Ausschreitungen gegen Hilfswerke evakuiert worden; sie haben einige Zeit in Athen gewartet, kamen vor einer Woche zurück und begannen, während sie alle in Eigenquarantäne waren, die Räume wieder herzurichten und zu putzen. Nun machen ihnen Corona und die vielen Reisebeschränkungen einen sehr abrupten neuen Strich durch die Rechnung: viele Mitarbeiter von Hilfswerken haben von ihren Heimatländern oder ihren Werken nahegelegt bekommen, nun noch schnell abzureisen. Auch wir verlieren 15 junge Ehrenamtliche vor der Zeit, weil der internationale Flugverkehr morgen für zwei Wochen eingestellt wird und ihre Visa nicht über diese Zeit hinausreichen.  Sie alle haben nur wenige Stunden, um zu packen, sich zu verabschieden und all die Änderungen innerlich „unter die Füße zu bekommen“. Kein Wunder, dass meine Nachbarin ganz durcheinander ist, als sie notdürftig ein paar Klamotten in einen Koffer wirft. Sie wissen noch nicht, ob und wann sie wiederkommen. Und wer weiß, was dann aus Moria geworden ist!

     

    Es war eine Woche, in der nicht nur die Abreisenden fanden, dass es „alles ein bisschen viel“ war. Am Montagabend war ich selbst zum ersten Mal in meinen eineinhalb Jahren hier an dem Punkt, dass ich dachte: ich halte es keinen einzigen Tag mehr hier aus! Die Krisen kommen einfach von zu vielen Seiten. Bis letzte Woche haben sie sich noch die Klinke in die Hand gegeben; sie kamen Schlag auf Schlag, aber immerhin lösten sie einander noch fast höflich ab. Seit dieser Woche habe ich den Eindruck, dass die Krisen alle - um im Bild zu bleiben - in der Tür stehen bleiben, zu einem großen, wirren Krisenknäuel verknotet. Sie versperren uns den Blick nach draußen und in die Zukunft. Auf was sollen wir uns denn noch einstellen? Womit müssen wir rechnen? 

     

    Was uns so in der letzten Woche - neben den üblichen Randalen der Minderjährigen und dem täglichen Vandalismus rund ums Camp, vier aufgeschlitzten Reifen, zwei zerschlagenen Autospiegeln und drei zerschmetterten Fensterscheiben - beschäftigt hat: Unser großes Feuer vom Montagmittag zum Beispiel. Es hat es ja auch einmal wieder in die deutschen Medien geschafft. Ich war selbst nicht vor Ort, als es ausbrach, weil mein Auto nicht ansprang und ich beim Versuch, einen Mietwagen zu organisieren, einige Stunden in der Stadt unterwegs war. Meine Kollegen evakuierten sofort unsere Mannschaft - immerhin hatten wir noch gut 40 Leute auf dem Gelände - und sammelten sie für eine erste Auswertung und Aussprache im Gemeinschaftszentrum einer befreundeten Gruppe. Noch während alle einen Platz fanden und zur Ruhe zu kommen versuchten, stürzten einige Kollegen und Freunde eines anderen Hilfswerks, völlig aufgelöst und nach Feuer stinkend, mit in den Raum: Sie hatten die verbrannte Leiche des kleinen Jungen gefunden und parallel die Evakuierung geleitet. Alles ein bisschen viel! Mit einigen älteren Kollegen verschwanden sie in einem Nebengebäude zum Reden und Beten, damit die restlichen Ehrenamtlichen nicht zusätzlich verstört wurden. 

    Noch während unser Member Care-Pfarrer mit der Gruppe im Gespräch war, zogen einige von uns wieder ins Camp, um die erste Nacharbeit einzuleiten: Wie groß ist der Schaden? Welche Räume und Zelte sind zerstört? Wie viele Menschen brauchen für heute Nacht Decken und Schlafsäcke, vielleicht sogar neue Kleider?

    Es ist ein Bild wie aus einem Kriegsfilm, das sich uns bietet, als wir über die Trümmer klettern: zwei der großen Räume sind ausgebrannt, und komplett abgebrannt sind auch fünf sogenannte Life Shelter, ein Dutzend kleine Zelte und selbstgebaute Unterkünfte. Ein Kind ist tot. Und nur in Moria verlieren bei einem Feuer, das auf vielleicht 300 Quadratmeter begrenzt ist, gleich 200 Menschen ihr Obdach und ihre Habe. Viele stehen noch fassungslos vor den schwelenden Trümmern und Plastikfetzen, die in den letzten Monaten ihr schäbiges Zuhause gewesen sind. „Jetzt habe ich gar nichts mehr“, sagt eine Frau tonlos und klammert sich an meine Kollegin. „In dem Zelt war alles, was ich noch hatte.“

    Mit einer siebenköpfigen Familie aus Nordafrika, die in einer Ecke zusammengekauert sitzt, komme ich ein bisschen ins Gespräch - ich mit meinem Schulfranzösisch, der Vater, Hussein, mühsam in Englisch. Das älteste Kind ist vielleicht 12 Jahre alt, das jüngste drei. Der Kleine hat nur eine Windel und einen Pulli an, und dabei wird es jetzt am Nachmittag wieder empfindlich kalt: ich trage eine Mütze und einen warmen Schal. Vielleicht waren sie gerade dabei, ihm etwas Wärmeres anzuziehen, als das Feuer sie alle überraschte. „In unserem Zelt waren alle unsere Sachen, unsere Papiere, mein Handy… Wie soll ich denn jetzt den Kontakt zu unseren Verwandten zu Hause halten?“ Die meisten haben Erinnerungsfotos und Kopien wichtiger Dokumente auf dem Handy dabei. Husseins Frau ist schwanger und macht sich Sorgen um ihr Ungeborenes. „Ich hatte so schlimme Krämpfe im Bauch eben“, sagt sie fast entschuldigend. Sie weiß, dass sie im Moment keinen Arzt finden wird. Die Familie weiß nicht, wo sie die Nacht verbringen soll. Nach einer Katastrophe wie dieser, so ist die Erfahrung meiner Kollegen, schlüpfen die meisten erst einmal für eine Nacht bei Freunden oder Verwandten im Camp unter - trotz der unglaublichen Enge sind die Gastfreundschaft und der Zusammenhalt unglaublich. „Für uns geht das nicht“, sagt Hussein und schüttelt den Kopf, „wir sind die einzigen aus unserem Land. Meine Frau ist Journalistin und wir sind geflohen, weil sie Kritisches über den Islam geschrieben hat. Unsere Nachbarn hier wissen das. Sie helfen uns nicht. Sie nehmen uns übel, dass wir keine Muslime mehr sind. Selbst die, die sich vielleicht um uns kümmern würden, haben Angst, dass sie dann selbst Ärger mit den anderen Nachbarn bekommen könnten.“ Und mit den extremen Muslimen im Camp, denke ich leise, von denen wir alle wissen, dass es sie gibt. „Unser Asylantrag ist schon bewilligt“, erzählt Hussein, „wir haben nur noch nicht aus Moria weggekonnt, weil wir seit einigen Wochen nicht auf die Fähre dürfen.“ (Das stimmt, denke ich; wegen einiger Fälle von Meningitis durfte niemand aufs Festland ziehen, bis die Gesundheitsbehörde die Freigabe gab. Wie tragisch, dass diese Familie dadurch doppelt leidet.) „Ich würde euch so gerne helfen“, sage ich, aber ich kann ihnen auch keine Fährtickets ausstellen. Ich kämpfe selbst mit den Tränen, als ich mich nach dieser Begegnung und einigen weiteren, traurigen, wieder zu unserem Büro-Container in der Mitte der Camps durchschlage. Dass die Leute nicht komplett zerbrechen oder durchdrehen, ist mir ein Rätsel. So viele von ihnen haben nicht nur einmal, sondern mehrmals alles verloren, was ihnen wichtig war. 

     

    Die Familie kommt, dank des unbürokratischen Einsatzes verschiedener Hilfsorganisationen, zusammen mit einer ganzen Reihe anderer „Obdachloser“, für die Nacht in einem Warenlager in der Nähe unter. Ab dem nächsten Tag können wir ans Aufräumen gehen, auf dem freigewordenen Gelände wenigstens übergangsweise Zelte aufbauen und den Leuten wieder eine Form von Zuhause geben. 

     

    Noch während meine Kollegen und unsere Ehrenamtlichen tagelang die 200 versorgen und neu unterbringen, beginne ich mit einigen Angehörigen anderer Hilfsorganisationen über die Zukunft nachzudenken: Was ist, wenn Corona im Camp ankommt? Es gab in den letzten Tagen mehrere Treffen mit Behörden, UNHCR und „unsereins“. Der erste Fall von Corona, der nun schon fast zwei Wochen zurück liegt, ist glimpflich ausgegangen. Die betroffene Frau ist schon fast wieder gesund, aus ihrem Bekanntenkreis ist weiter niemand positiv auf Covid-19 getestet worden. „Es ist davon auszugehen, dass wir bald in die nächste Runde gehen und innerhalb der nächsten zwei Wochen auch den ersten Fall im Camp haben“, sagt ein Seuchenexperte, der zu einem dieser Treffen mit dazugekommen ist. „Es ist wichtig, dass Sie im Camp eine gute Triage einrichten“, schärft uns der Chef des kleinen Insel-Krankenhauses ein, „sodass dann nur Fälle ins Krankenhaus geschickt werden, die wirklich ins Krankenhaus gehören.“ Als wäre das unser einziges Problem! Wenn Corona sich im Camp ausbreitet, wird das rasend schnell gehen. Es wird sehr sehr viele Fälle geben, die, mit seinen Worten gesagt, „wirklich ins Krankenhaus gehören“. Das Krankenhaus hat 6 Corona-Betten eingerichtet, die es um weitere 20 ergänzen kann. Die Intensivstation hat insgesamt 5 Betten, und es gibt auf der ganzen Insel nur ein halbes Dutzend Beatmungsgeräte. Die Inselbewohner haben schon Sorge, dass die Infrastruktur alleine für sie nicht ausreichen wird - und wenn ihre Omas und Lungenkranken nun mit den Flüchtlings-Opas und -Herzkranken um die wenigen Plätze konkurrieren müssen, trägt das nicht gerade zum sozialen Frieden bei. Wir müssen mit allen rechnen.

     

    „Am wenigsten schlimme Fälle werden wir haben, wenn wir die Hochrisikogruppen isolieren, bevor Covid-19 das Camp erreicht“, argumentieren die Mediziner, und das ergibt wirklich Sinn. Wenn nur die Jungen, noch halbwegs Starken infiziert werden, wird es nicht so viele schwere Verläufe geben. Es gibt nur etwa 200 Menschen über 60 Jahre im Camp; dazu kämen die schwer Herz- und Lungenkranken. Nur dass es kein Hotel auf der Insel gibt, das einige Dutzend alte und kranke Flüchtlinge aufnehmen würde - was die logistisch einfachste Lösung wäre. Sie aufs Festland zu verlegen, versucht UNHCR schon seit langem, scheitert aber an der Bürokratie. 

     

    Wir beginnen gemeinsam Alternativen zu überlegen, und dabei kämpfen wir gleichzeitig an so vielen anderen Stellen. Immer mehr Helfer reisen überstürzt ab und wir müssen die Schichtpläne fast stündlich umwerfen. Welche unserer Dienste können wir noch machen? Gleichzeitig wird die Bewegungsfreiheit der Camp-Bewohner - und auch unsere eigene - massiv eingeschränkt: Nur noch von 7 bis 19 Uhr sollen sie in kleinen Gruppen und nach vorheriger Anmeldung das Camp verlassen dürfen. Dass sich das nicht durchsetzen lässt, weil „das Camp“ natürlich längst nach allen Seiten durchlässig ist, ist die eine Seite. Die andere ist: Ist das der Anfang vom Lock-Down, an dem niemand mehr das Camp verlassen darf? Auch wir können nicht mehr direkt vor dem Camp parken, sondern einen halben Kilometer entfernt an einer Straßensperre der Polizei. Als eine von wenigen Hilfsorganisationen haben wir immerhin noch Zugang zum Camp, und darüber sind wir sehr froh.

    Andere Leute sind dankbar für die neuen Regelungen: Anfang der Woche sind verschiedene griechische Mitarbeiter (Sozialarbeiter, Türhüter, Büroangestellte…) beim Camp Manager aufgeschlagen und haben das Home Office eingefordert, das ihnen nun zusteht. Was eine total verständliche Reaktion ist, führt nun aber auch dazu, dass die minderjährigen Jungs immer unbeaufsichtigter sind und unsere ein, zwei ehrenamtlichen 18- oder 19jährigen oft alleine für 350 Jugendliche Verantwortung zu übernehmen haben. Wie lange können sie das noch tragen?

    Auch Militär und Polizei sind nicht mehr so präsent, wie sie einmal waren. Oft knubbeln sie sich am Camp-Eingang oder vor der kleinen Polizeistation. Sie möchten sich nicht anstecken - und erst recht nicht diejenigen sein, die Covid-19 ins Camp tragen. Niemand will das! 

    Es führt aber auch dazu, dass der Essens-Anlieferer sich nicht mehr ins Camp traut und in dieser Woche mehrmals entweder gar nicht geliefert oder seine Ladung einfach vor den Camp-Toren abgeladen hat. Wenn 28 Paletten Wasser ohne jeden Verteilplan auf einer freien Fläche abgestellt werden, kann man sich doch nicht wirklich wundern, wenn sich Hunderte durstige Menschen darum prügeln, die Stärkeren gewinnen und die Schwachen wieder einmal leer ausgehen. Ein Gutes hat Corona vielleicht: Niemand in Deutschland, wo Kunden ihren Nachbarn das letzte Toilettenpapier vor der Nase wegschnappen, kann nun noch auf „verrohte“ oder „maßlose“ Flüchtlinge herunterschauen, die greifen, was ihnen geboten wird. 

    Immerhin ist diesmal niemand verletzt. 

     

    Und in all dem Chaos immer wieder: die Schönheit der Natur, die Findigkeit der Moria-Bewohner, das Lachen der Kinder. Als ich mich in diesen Tagen eine Halbe Stunde im Olivenhain verlaufe, fällt mir wieder auf, wie großartig die Infrastruktur ist, die die Menschen sich hier geschaffen haben, nur mit Paletten und Planen, ein paar Nägeln und den Deckeln von Plastik-Wasserflaschen. Sie haben Regenrinnen gezogen und Wege planiert, Bäckereien und Kioske aufgebaut und Marktstände organisiert, und manche haben sogar kleine Vorgärten angelegt, mit Grasstückchen, die sie aus einiger Entfernung in Eimern herangeschafft haben. Abgesehen davon, dass es hier keinen Strom und eben auch kein Wasser gibt, sieht es hier im Frühling gar nicht so hoffnungslos aus. Nur dass die Angst in der Luft hängt. Wo Afghanen vorher „Bolani! Bolani!“ anboten (ein pfannkuchenartiges sehr leckeres Gericht, am besten mit scharfer Soße), rufen sie nun „Corona? Corona?“ 

    „No Corona in camp“, beschwichtige ich und sie führen dankbar die Rechte an die Brust. „Teschakor! Danke!“ Als wäre mir persönlich dafür zu danken, dass der Ernstfall bisher noch nicht eingetreten ist. 

     

    Während ich hier schreibend versuche, die letzte Woche zu verarbeiten, kündigen sich die nächsten Krisen an. Ein Ehrenamtlicher berichtet von einem der minderjährigen Jungs, der gestern Corona-Symptome gezeigt hat. Es war kein Arzt zu erreichen und die extra eingerichtete Notfall-Nummer in vielen Sprachen war durchgehend besetzt. Jetzt geht es ihm selbst auch schlecht und er fragt sich, ob er sich Sorgen machen muss. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet Covid-19 hat; er ist schon lange hier und kennt auch niemanden, der infiziert ist. Aber um sicher zu gehen, versuchen wir nun am Sonntagabend auch für ihn einen Telefon-Arzt zu finden und seinen Zimmerkollegen in einem anderen Haus zu isolieren. 

    Einige meiner Kollegen, die Ferienwohnungen angemietet haben, müssen vielleicht morgen Hals über Kopf aus ihren Quartieren ausziehen: nur noch in ausgewählten Hotels werden die wenigen verbliebenen Ausländer gesammelt. Vielleicht auch, weil man sie so besser unter Kontrolle halten kann... Wir wissen zum Glück von einer Reihe Privatwohnungen, die nach dem Abzug mancher Helfer leer stehen und die wir verwenden können. Aber mühsam ist das alles schon!

    Und der Premierminister hat gerade eine Ausgangssperre verhängt, geltend ab morgen 6 Uhr! Wir werden nachweisen müssen, dass wir im Camp arbeiten und dort wirklich gebraucht werden, und das möglichst alles vor Schichtbeginn um 8 Uhr. Es ist einerseits großartig, mit welcher Schnelligkeit Griechenland Verordnungen zum Schutz aller verhängt - und andererseits atemberaubend. Wie sollen wir denn unserer verbliebenen rund 30 Ehrenamtlichen über Nacht personalisierte, nur in Griechisch verfasste Ausnahmeregelungen über eine Webseite erstellen, die schon seit Stunden nicht mehr erreichbar ist? Mein griechischer Kollege aus dem Büro versucht noch am Abend den Camp-Manager zu erreichen und zu überlegen, wie wir unsere Leute morgen nach Moria schaffen. Achja, und Fahrgemeinschaften von mehr als zwei Personen sind wohl ebenso verboten. Unsere 8-er oder 9-er Busse werden ab morgen also durch einige Einzel-Shuttle-Services ersetzt. 

     

    Das wird eine kurze Nacht. Die neue Woche kann kommen… 

    Sonntag, 15. März 2020

    Workout auf der Geisterinsel

    „Wenn die Polizei das hier mitbekommt, kommt ihr alle in den Knast!“ Griechische Freunde, die ich aus meiner Gemeinde in Mytilene kenne, halten extra am Straßenrand an, als sie mich zum Gemeinschaftszentrum von i58 gehen sehen, um mich zu warnen. Unsere Partnerorganisation hält ihren üblichen Sonntags-Gottesdienst schon seit den Spannungen vor zwei Wochen nicht mehr in ihrer Teestube in der „Oasis“ auf einem Hügel ab, sondern nur noch als Team-Andacht in den eigenen Räumen. Das soll jetzt auch verboten sein?  „Ja“, sagt meine Freundin, „Ansammlungen von mehr als fünf Menschen sind nicht mehr erlaubt. Passt auch euch auf!“ Verwirrt schleiche ich möglichst unauffällig weiter zum Gottesdienst. Es hat in den letzten Tagen so viele Anordnungen gegeben - viele davon nur auf Griechisch veröffentlicht - dass man wirklich den Überblick verlieren kann. Alle Schulen sind geschlossen, seit gestern auch Cafés und Restaurants, Friseurläden und Beautyshops, und seit heute auch die öffentlichen Strände, zu denen die Griechen mangels anderer Beschäftigungen zu strömen begonnen hatten. Lesbos wird immer mehr zur Geisterinsel und ich beginne mich zu fragen, wie die Insel - und überhaupt Griechenland - sich je von Covid-19 erholen wird. Und dabei fängt der Spuk gerade erst an! Immer noch ist auf der Insel nur ein einziger Fall bestätigt - was aber auch daran liegen kann, dass die Griechen nur bei Patienten mit schweren Symptomen Proben nach Athen schicken und auf Covid-19 testen lassen. Die Labore sollen nicht überlastet werden. Aber das kann natürlich bedeuten, dass ungezählte Fälle mit leichterem Krankheitsverlauf nie in den Statistiken auftauchen - und dabei trotzdem dafür sorgen, dass sich das Virus weiter ausbreitet. Das kann noch interessant werden... Ich glaube, die letzten Tage waren nur die Ruhe vor dem Sturm. (Wobei "Ruhe" hier ein sehr relativer Begriff ist.)

     

    Ich komme mir heute ein bisschen vor wie in einem Gottesdienst in Russland zu Zeiten des Kommunismus: Sollten wir vielleicht leiser singen? Was, wenn hier plötzlich die Polizei auftaucht? Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sind in den letzten Jahren schon öfter unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet worden; manchen Behörden sind alle Hilfsorganisationen ein Dorn im Auge, weil sie von den menschenunwürdigen Zuständen im Camp berichten oder von den Menschenrechtsverletzungen, die Griechenland lieber unter den Teppich kehren würde… Vielleicht käme ihnen eine Übertretung gegen Corona-Gesetze unsererseits gerade recht, um uns loszuwerden… Ich merke, dass ich regelrecht gegen meine Paranoia anbeten muss. Es ist mein erster Gottesdienst seit zwei Wochen und ich brauche das gemeinsame Ausrichten auf Gott, die Gemeinschaft und das Singen gerade jetzt so sehr! Ich will mich nicht ablenken lassen! 

     

    Gestern hatten wir noch einmal einen Tag mit einem Anschein von Normalität. Normalität in Moria - das bedeutet meist: Es kommt irgendeine Anweisung oder Anfrage des Camp Managements oder der Behörden, die man mangels konkreter Informationen kaum sinnvoll umsetzen kann. „Könnt ihr für 156 Leute 12 Zelte aufbauen?“, hat uns der Polizeichef gefragt, „ich habe schon alle anderen gefragt, aber keiner konnte helfen.“ Kein Wunder, denke ich, die anderen wollen vielleicht einfach ihren Samstag genießen - wie auch die griechische Camp-Verwaltung, die unseren Polizeichef mit dieser Aufgabe völlig alleine lässt. Wir rücken mit 12 ehrenamtlichen Helfern an, die ihren freien Tag opfern. Ich habe mich auch mit gemeldet; die Aussicht auf ein Workout unter freiem Himmel bei herrlichem Frühlingswetter hat mich gereizt. Aber als wir unter der Anleitung meines Kollegen anfangen, die großen, schweren Zelte und über hundert Paletten zum vorgesehenen Platz zu schleppen und den Boden vorzubereiten, findet sich für mich doch wieder eine andere Aufgabe: die Logistik! Niemand weiß bisher, wie die Leute versorgt werden sollen. Sie gehören zu den Neuankömmlingen, die seit dem ersten März griechischen Boden betreten haben und deswegen nicht einmal polizeilich erfasst werden. Griechenland hat das Recht auf Asyl ausgesetzt und will diese Menschen, sobald es geht, ohne jede Anhörung deportieren - ob in ihre Heimatländer oder „nur“ in die Türkei, wissen wir nicht. Alle Länder sind so mit ihrer eigenen Coronakrise beschäftigt, so habe ich den Verdacht, dass niemand die Stimme erheben wird für diese Menschen und ihre Rechte. Die 156, für die wir hier Zelte aufbauen, haben seit Tagen im Norden am Strand und in Polizeibussen gelebt und sollen wohl nun hier ein Übergangsquartier finden; über 500 weitere sitzen seit zwei Wochen auf einem Frachtschiff der Marine im Hafen fest. Die Zustände sind unbeschreiblich, aber nur ganz wenige Helfer werden überhaupt zu ihnen durchgelassen. Ich versuche nun herauszufinden, wie die Unterbringung geregelt werden soll. Werden diese Leute in einem abgegrenzten Bereich gehalten und bewacht? Wenn ja, woher kommen Toiletten und Wasser? Woher bekommen sie Essen? Brauchen sie Schlafsäcke, Decken, Matten? Was hat man ihnen oben an der Küste denn schon gegeben? Der Polizeichef zuckt nur die Schultern. Er weiß es auch nicht. 

    Nach zwei, drei Stunden wird die ganze Aktion abgeblasen. Unsere Helfer schleppen die Zelte und Paletten wieder zurück und verabreden sich zum Schwimmen in einer schönen Bucht nahe ihrer Wohnung. Die Neuankömmlinge vom Norden werden mit auf das Marineschiff im Hafen verfrachtet, das dann auch bald ablegt. In einem geschlossenen Camp auf dem Festland warten sie nun auf ihre Deportation. 

     

    Manchmal bin ich froh, dass ich im täglichen Organisieren gefangen bin und meist keine Kraft habe, an irgendetwas außerhalb meines Gesichtsfelds zu denken, zum Beispiel diese Menschen aus dem Norden, deren Rechte einfach ausgesetzt werden. Es gibt hier in Moria schon genug Schlimmes - und hier kann ich mit meinem Team immerhin etwas Linderung zu schaffen versuchen. 

    Unsere Situation hier kommt mir immer surrealer vor. Ich bin sicher nicht der einzige Mensch auf der Welt, der angesichts von Corona hofft, dass das alles nur ein schlechter Traum war und wir alle irgendwann aufwachen und wieder zur Tagesordnung übergehen werden, in der unsere Pläne zustandekommen, das Leben einigermaßen funktioniert und es in den Supermärkten genug Toilettenpapier für alle gibt. Und dann wird mir - was mich vermutlich dann doch von den Leuten zu Hause unterscheidet - wieder bewusst, dass ein Aufwachen aus dem Corona-Albtraum hier auf Lesbos kein echter Fortschritt wäre: Moria war schon vorher ein Albtraum und keine Realität, in der man gerne aufwachen möchte. Dass alles seit Monaten auf eine Katastrophe zuläuft, empfinde ich ja schon länger. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass unser Camp in zwei, drei Monaten, „nach Corona“, noch in der Form existiert, in der wir es kennen. Vielleicht ist diese Pandemie die Chance auf eine neue, bessere Realität. Ich möchte es so gerne hoffen.

     

    Es ist verrückt, wie sich in mir in diesen Tagen doch eine gewisse Wehmut ausbreitet. Moria mit seiner Intensität und dem Kommen und Gehen von Helfern aus aller Welt hat mich ganz schön geprägt! Von manchen Bekannten aus anderen Hilfsorganisationen haben wir uns kaum verabschieden können, als sie nach den Angriffen vor zwei Wochen ihre Teams Hals über Kopf evakuierten. Sie überlegten gerade, wenigstens einen Teil ihrer Leute für ein paar grundlegende Dienste zurückzubringen, als Corona auch ihre Pläne neu durchkreuzte. Wie viele von ihnen werde ich wohl überhaupt wiedersehen? Andere verabschieden sich in diesen Tagen, weil ihre Angebote im Bildungs- oder Aktivitätensektor unter den neuen Gesetzen nicht mehr möglich sind. Wir witzeln, weil wir uns unter den neuen Regeln nicht einmal mehr ausgiebig zum Abschied umarmen können; stattdessen „füßeln“ und “ellbogeln“ wir, aber ich bin traurig. Ich habe manche der Helfer aller Art, die sich in den letzten Tagen verabschiedet haben, ungeheuer schätzen gelernt: Ihre jahrelange Hingabe an die Ärmsten und Gebeuteltsten hier unter unmöglichen Arbeitsbedingungen. Ihre Flexibilität, wenn sie täglich neue Lösungen finden mussten. Ihr Mitgefühl, wenn sie sich die Auswirkungen neuer Gesetze auf die Betroffenen ausmalten. Ihren Humor, ohne den so vieles sich nicht ertragen ließe. Wir haben so viele Stunden in muffigen Moria-Containern manchmal nebeneinander, immer mehr aber auch gemeinsam um Lösungen gerungen. Ich hoffe, viele dieser unbesungenen Helden irgendwann wiederzusehen. 

     

    Wenn das alles hier vorbei ist. 

    Dienstag, 10. März 2020 

    Die Liebe in den Zeiten der Coronakrise

    Ich erinnere mich an eine Weiterbildung, die ich in meinen acht Jahren als ehrenamtliche Notfallseelsorgerin einmal mitbekommen habe. Es war ein Planspiel zum Thema Pandemie. Was passiert, wenn innerhalb von wenigen Wochen, sagen wir einmal, eine Viertel der Bevölkerung ausfällt, weil sie entweder krank ist oder gar verstirbt? Wie lange hält die Solidarität zwischen Nachbarn? Was passiert, wenn die Versorgungskette zusammenbricht und aus Hamsterkäufen Plünderungen werden? An welchem Tag bricht das Gesundheitssystem zusammen? Wer sorgt für Ordnung, wenn auch Militär und Polizei personell um ein Viertel dezimiert sind? Und wie machen wir unserer Arbeit als Seelsorger, wenn wir wegen Ausgangssperren die Menschen nicht zu Hause besuchen und - viele von uns waren Pfarrer oder Priester - wegen Ansteckungsgefahr vielleicht nicht einmal mehr Beerdigungen halten können?

    Es war als Gedankenexperiment und Anleitung interessant, und der leise grauselige Was-Wäre-Wenn-Schauer gehörte vermutlich mit dazu. Ein solches Szenario war so herrlich weit weg. Und unser Vertrauen, dass das alles mit deutscher Organisiertheit doch irgendwie glimpflich abgehen würde, saß doch tiefer als die Sorge. 

     

    Seit gestern ist uns ein anderes Gedankenexperiment ganz nahe gekommen. Der erste Fall von COVID-19 wurde auf Lesbos bestätigt, eingeführt - zum Glück! - nicht von einem Flüchtling oder einer Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, sondern von einer einheimischen Supermarktangestellten. Lesbos ist eine kleine Insel, und meine griechischen Kollegen haben längst rekonstruiert, dass sie um maximal zwei Ecken mit dieser Frau bekannt sind. („Klar, ihre Kinder haben beim Klavierlehrer meines Sohns Musikunterricht!“) Jeder kennt jeden! Was bedeutet Corona für die Insel und fürs Camp?

     

    Heute morgen hatten wir unser übliches Dienstagstreffen aller Akteure von Moria: Vertreter von Polizei, Asyldiensten, griechischen Behörden und Camp-Management treffen hier einmal in der Woche mit Hilfsorganisationen aller Art zusammen, und alle berichten, was gerade los ist, woran sie zur Zeit arbeiten, was ihnen Sorge macht, was sie seit letzter Woche getan haben… Nach der letzten Woche, in der viele Hilfsorganisationen die Arbeit eingestellt oder stark reduziert hatten, war es berührend zu sehen, wer noch da ist und wer welche Dienste wieder aufnimmt. Gebeutelt sehen viele aus; die letzte Woche hat uns alle mitgenommen, und manchen steht die Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. Ist der Spuk nun vorbei, oder müssen wir in Zukunft immer mit ähnlichen Angriffen auf Hilfsorganisationen rechnen? An so vieles, was wir in den letzten Jahren als eine unzumutbare rote Linie definiert hatten, die auf keinen Fall überschritten werden dürfte, haben wir uns auf Dauer einfach gewöhnt. Wir machen einfach weiter.

     

    Nun stolpern wir also, bevor wir die letzte Krise aufgearbeitet und einigermaßen verdaut haben, ohne Pause gleich in die nächste. „Welche Maßnahmen ergreift das Camp Management in Bezug auf COVID-19?“, stellt einer der Ärzte die direkte Frage. 

    „Jaaaa, wir müssen den Bewohnern von Moria vermitteln, wie sie sich schützen können“, sagt Kostas, der unser Treffen im Namen des Camp Managements leitet. Ich habe den kleinen knuffeligen Griechen mit den warmen braunen Augen furchtbar gerne, und es tut mir leid, dass er auch nicht mehr sagen kann, als was seine Vorgesetzten ihn wissen lassen. „Wir können die Informationen über die Vertreter der jeweiligen Volksgruppen ins Camp tragen, Broschüren in den verschiedenen Sprachen drucken…“

    „… vor allem für die vielen Analphabeten…“, murmelt einer auf der anderen Seite des Raums müde. Aber natürlich sehen wir alle ein, dass Prävention das Beste ist. Wenn niemand sich ansteckt, wird Corona natürlich brav an Moria vorbeigehen. Was für ein verrückter Wunsch! „Das Gute ist, dass wir im Moment in Mytilene keinen Stress haben zwischen Bewohnern und Flüchtlingen“, versucht Kostas etwas Leichtigkeit in die Runde zu bringen, „die Flüchtlinge gehen nicht mehr in die Stadt, weil sie sich nicht anstecken wollen!“

     

    „Kann man die Vorsichtsmaßnahmen vielleicht ein bisschen an Moria-Verhältnisse anpassen?“, schlägt eine junge Frau vor, ich glaube, sie ist Krankenschwester. „Ich meine… wir können doch nicht davon ausgehen, dass die Leute sich die Hände waschen können. Sie wohnen viel zu weit vom nächsten Waschbecken entfernt…“

    „… und ab 10 Uhr ist da doch auch auch das Wasser weg“, ergänzt einer. Stimmt, wenn man die total einleuchtenden Maßnahmen zur Corona-Vorbeugung unter Moria-Gesichtspunkten beleuchtet, kann einem das Grausen kommen. Hände waschen? Mit Seife gar? Einen Meter Abstand zu anderen Menschen halten? Wie soll das denn gehen, wenn vier Familien mit kleinen Kindern, vielleicht 18 Leute, in einem 16-Quadratmeter-Zelt hausen? Was Moria ausmacht, mehr noch als der Gestank, ist das Gewimmel von Menschen aus 50 oder 60 ethnischen Gruppen auf engstem Raum. 

     

    „Okay“, versucht eine Juristin das Gespräch wieder auf konstruktivere Bahnen zu führen, „angenommen, jemand bemerkt an sich Covid-19- Symptome. Wohin soll er gehen?“ Wir würden in allgemeine Heiterkeit ausbrechen, wenn es nicht so traurig wäre. Fieber und Husten? Das können sicher ein, zwei Tausend Moria-Bewohner vorweisen. Hier sind doch alle krank! Und sie gehen alle schon längst nicht mehr zum Arzt, weil sie dort keine Chance haben, überhaupt vorgelassen zu werden, wenn ihr Leiden nicht offenkundig lebensbedrohlich ist. 

    „Vielleicht haben wir Corona ja schon längst im Camp“, murmelt ein junger Mann in meiner Nähe, „und niemand hat es diagnostiziert, weil eh alle Husten und Fieber haben.“

    „Und wo können wir Menschen isolieren?“, fragt einer der Ärzte. „Ja, da haben wir eine Lösung“, berichtet Kostas stolz. Auf dem abgegrenzten Gelände innerhalb von Moria, im Moment für Büros und Lagerräume des Militärs verwendet, befinden sich einige Wohnungen, die im Moment vom Militär als Büros genutzt werden. „Eine davon würde zur Quarantänestation umfunktioniert.“ Wir werfen einander ungläubige Blicke zu. Eine Wohnung mit vielleicht sechs Betten als Quarantänestation für 20.000 Menschen? Und wer versorgt die Kranken, wenn es sie dann gibt? Und wo? Das kleine Krankenhaus von Mytilene war doch schon vor Corona überlastet; eine Insel mit 85.000 Einwohnern verkraftet die 20.000 Zusätzlichen aus dem Camp nicht ohne Weiteres. „Und das ist der ganze Plan?“, wagt einer nochmal nachzufragen. Aber wir wissen die Antwort alle. Kostas grinst ein bisschen schief. Was soll er sagen?

     

    Irgendjemand wagt, das Wort Pandemie in den Raum zu werfen; wir reden doch nicht von einem Phänomen, das erst gestern plötzlich über die Welt hineingebrochen ist. Es kann doch nicht sein, dass wir alle überrascht werden, wenn es plötzlich Hunderte Corona-Fälle im Camp gibt?! Dass wir überhaupt nicht vorbereitet sind?! Die Leute sind nach dem Winter geschwächt, es wird mehr Tote geben als unter vergleichbaren Bevölkerungen. Und wie werden die Griechen versuchen, das Problem einzugrenzen? „Vielleicht bringen sie das Militär her und stellen das ganze Camp unter Quarantäne. Keiner darf hinaus oder hinein und man wartet einfach ab, bis Corona sich ausgelaufen hat“, zuckt ein Mitarbeiter eines Hilfswerks mit den Schultern. Er arbeitet schon lange im Camp und hat zu viele gewaltsame Hauruck-Aktionen miterlebt, um allzu zuversichtlich in die Zukunft zu sehen. „Naja, das Militär ist ja gerade an der Landesgrenze zur Türkei beschäftigt“, meint ein anderer „vielleicht haben sie keine Leute mehr, die sie hierher schicken können.“

    Einer der Ärzte schlägt beherzt vor, wenigstens in unser aller Namen an das Camp-Management und das für uns verantwortliche Ministerium zu schreiben und dringend darum zu bitten, dass ein konkreter Maßnahmenplan erstellt wird. Wir bringen uns gerne alle mit unserer Expertise ein, aber im Moment wissen wir nicht einmal, an wen wir uns auf Seiten der griechischen Verantwortlichen wenden sollen. Ich verlasse das Treffen mild-verwundert. Vielleicht müssen wir einfach planlos in die Katastrophe eintreten und improvisieren. This is Greece. 

     

    Das wäre ja zu schön, wage ich für einen Moment zu träumen, wenn unsere Moria-Bewohner bei einem Corona-Ausbruch einige Wochen lang wie echte Menschen behandelt würden. Wenn man Teams von Medizinern einflöge, um die Kranken zu versorgen, und Hotels zur Verfügung stellte, in denen Angehörige ihre Quarantäne abwarten könnten. Und echte Betten, in denen die Kranken liegen könnten.  

    Aber wahrscheinlicher ist, dass auch Corona die Lage der Vergessenen auf Lesbos nur noch schlimmer macht, und dass man mit Gewalt am Ende eindämmen muss, was mit ein bisschen Voraussicht,  Fürsorge und Menschlichkeit nie eskaliert wäre. 

    Hier ist in den nächsten Wochen mit allem zu rechnen, denke ich, als ich nach diesem Treffen Infos für unsere Ehrenamtlichen zusammenstelle. Diejenigen, die in der Warteschleife sitzen und trotz der Spannungen der letzten Woche innerhalb der nächsten Tage anreisen wollten, schreibe ich als erste an: Es kann in den nächsten Wochen hier sehr ungemütlich werden, schildere ich die Situation. Es ist mit Versorgungsengpässen zu rechnen; niemand weiß, wie sich Corona in unserer besonderen Situation auswirken wird, und dazu kommt das gewöhnliche, vielleicht bei uns etwas erhöhte Gesundheitsrisiko. Bitte kommt nur, wenn ihr die Risiken für euch abgewogen habt, schreibe ich. Manche sagen sofort ab. Andere schreiben gleich zurück: Jetzt werden wir doch erst recht gebraucht! 

    Die Reaktion unserer meist sehr jungen Helfer, die seit den letzten Tagen wieder eingetrudelt sind, berührt mich am meisten. Wir geben ihnen natürlich auch die Möglichkeit, jederzeit die Arbeit zu verlassen, aber zumindest ganz spontan kommt das für keinen in Frage. Sie sind alle viel zu froh, nach einer Woche Hausarrest und einem vorgeschriebenen Athen-Wochenende endlich wieder im Camp zu sein! Wir haben alle wir in den letzten Tagen gemerkt, wie stark wir zur Sicherheit und Stabilität in Moria beitragen. Wenn wir nicht da sind, werden Frauen im (dann nicht mehr) geschützten Bereich vergewaltigt, geraten die Unbegleiteten Minderjährigen außer Rand und Band, kommen Hunderte nur schwer an ihr Essen. Wir sind als Leitungsteam nach der Krise der letzten Woche umso entschlossener, auch unter schwierigen Bedingungen im Camp zu bleiben, so lange wir können: mit so vielen Diensten und mit so vielen Helfern, wie sich unter den Umständen bereit erklären. Aber wir müssen realistisch bleiben. „Wir müssen uns alle  persönlich überlegen, wieviel Leid wir um der Menschen willen in Kauf zu nehmen bereit sind“, sage ich zu unseren Helfern. „Bitte denkt darüber nach.“ 

     

    Wir haben immer den Auftrag gesehen, bei den Menschen im Camp zu sein, als „die Hände und Füße von Jesus“ Licht an einen dunklen Ort zu tragen. Ich sehe nicht, was sich an diesem Auftrag ändern sollte, wenn es im Camp noch finsterer werden sollte. Ich denke an die frühen Christen, die im alten Rom die Pestkranken versorgten, wenn diese alleingelassen wurden, an christliche Initiativen, die sich um die Unberührbaren und Ansteckenden kümmerten. Bringen wir uns in Sicherheit, so lange wir noch können, oder bleiben wir auch, wenn es richtig schlimm wird? „Denken wir mal das Worst-Case-Szenario“, überlege ich gemeinsam mit unserem Büroleiter: „Das ganze Camp wird unter Quarantäne gestellt; man kommt nicht mehr raus, höchstens vielleicht noch auf eigene Gefahr rein.“  Wir schauen uns an und denken das gleiche: „Feldbetten“, sagt er. „Schlafsäcke“, sage ich. Mal sehen, was wir aus unserem Warenlager ins Camp schaffen und dort für den Fall aufbewahren können, dass einige von uns zeitweise ins Camp ziehen. 

     

    Als ich an diesem Abend beim kleinen Tante-Emma-Laden vor meinem Haus vorbeigehe und zwei Rollen Klopapier erstehe, merke ich, dass es in mir auch zu arbeiten beginnt. Wieviel Unannehmlichkeiten würde ich denn meinerseits auf mich nehmen? Wäre ich selbst bereit, mit einem kleinen Teil meines Teams ins Camp zu ziehen, dort zusammen mit den Menschen die Quarantäne abzuwarten und zu tun, was wir unter den Umständen eben noch tun könnten? Einige Wochen Leben-in-Moria? Was für ein Alptraum! Ich glaube, ich muss auf dieser Idee noch ein bisschen herum kauen. 

    Ich hoffe, dass wir bereit sind, wenn es zum Schlimmsten kommt. 

    Und bete um unserer und der Flüchtlinge willen, dass irgendwie alles doch viel, viel glimpflicher abgeht.  

    Sonntag, 8. März 2020

    Anders als erwartet

    „Wir gehen auf eine Katastrophe zu.“ Ich habe es zuerst nur leise zu mir selbst gesagt, dann aber auch immer lauter zu den Freunden zu Hause oder bei Vorträgen: Was wir seit Sommer auf Lesbos erlebt haben, war eine neue Dimension von Leid und Durcheinander. 

    Als ich im Sommer die letzten Überarbeitungen an meinem Buch vornahm, schien noch alles in Ordnung: Wir hatten zwar immer noch rund 5000 Moria-Bewohner bei einer Kapazität für 3000, aber das war kaum dramatisch - immerhin hatten wir auch schon 9000 „gestemmt“. Wir konnten mit schönen Projekten das Camp ein kleines bisschen wohnlicher machen; mit Solarlampen, neuen Zelten und Zwischenwänden in den überfüllten Räumen. Wir atmeten auf und dachten vielleicht heimlich doch, dass irgendwie irgendwann sogar hier alles gut werden würde.

    Seit August denkt das hier niemand mehr. Die Bevölkerung von Moria ist auf über 19.000 angewachsen - 19.000 Männer, Frauen und Kinder, von denen drei Viertel in den Olivenhainen rund ums Camp hausen, ohne Elektrik oder Sanitäranlagen, oft in Sommer-Wurfzelten auf einer Palette und notdürftig mit einer Plane gegen Regen und Kälte geschützt. Auch im Camp ist das Stromnetz längst überfordert: Weil zu viele Menschen Strom abzuzapfen versuchen, sorgen ständige Kurzschlüsse dafür, dass eben niemand mehr Strom hat. Die Übergangs-Camp-Leitung (der Chef hat im August das Handtuch geworfen und es ist noch kein Ersatz gefunden; kein Wunder! Moria zu leiten, ist das reinste Kamikaze-Unternehmen!) versucht dem entgegenzusteuern, indem sie den verschiedenen Zonen innerhalb des Camps stundenweise Strom zuteilt. Für die Wasserpumpen ist das nicht genug: Ab 10 Uhr morgens gibt es kein Wasser mehr. Die angekündigten Generatoren, die Erleichterung schaffen könnten, lassen auf sich warten. 

    Gleichzeitig sorgen verschärfte Gesetze für Unsicherheit und massive Menschenrechtsverletzungen. (Das alles kann man übrigens leicht nachlesen, wenn man bei der Internetsuche „Moria“ oder „Lesbos“ eingibt.)

     

    Wir gehen auf eine Katastrophe zu, habe ich die ganze Zeit gedacht. Und ich hatte drei Szenarien im Blick: Dass die Flüchtlinge, die nichts mehr zu verlieren haben, komplett durchdrehen und randalieren, bis sie mit Gewalt niedergeschlagen werden. Dass die Bevölkerung von Lesbos, die jahrelang mit Geduld und großer Gastfreundschaft viele Nachteile in Kauf und den Zusammenbruch des Tourismus hingenommen hat, sich geschlossen gegen die Migranten wendet und das Camp angreift - und auch mit Gewalt niedergeschlagen wird. Oder dass eine Epidemie über das Camp hinaus um sich greift und Hunderte Tote fordert.

     

    Jetzt ist die Katastrophe ganz nahe gekommen. Und sie sieht ganz anders aus als gedacht.

    Es zeichnete sich schon vor fünf Wochen ab, als ich gerade für meinen Heimataufenthalt die Insel verließ: Es gab Demonstrationen auf Seiten der Migranten, die teilweise mit Tränengas niedergeschlagen wurden, und auf Seiten der Bevölkerung. Irgendwie schafften sie es nicht, sich zusammenzuschließen, obwohl sie doch das Gleiche wollten: dass die Flüchtlinge die Insel verließen. „Wir wollen unser Leben zurück“, ist der Schlachtruf der Inselbewohner, die sich erst gegen die Flüchtlinge, dann immer mehr gegen die Hilfsorganisationen richteten. Das vorherrschende Narrativ, dem in den lokalen Medien auch nicht widersprochen wird, ist, dass wir mit Schleppern und Erdogan unter einer Decke stecken und uns an der Flüchtlingskrise bereichern. Wenn wir nicht da wären, so die Logik, würden auch keine Flüchtlinge mehr kommen. 

    Schon damals gab es erste Gewalt gegen Hilfsorganisationen, aber sie war noch nicht ganz systematisch und richtete sich nur gegen Menschen, wenn sie zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren: einige unserer Autos wurden zerkratzt und die Scheiben wurden eingeworfen; eine Gruppe unserer Freunde wurde von einem wütenden Mob, der eigentlich auf Flüchtlinge losgehen wollte, mit Steinen beworfen. 

    Eine Woche später die Regierung mit dem Bau von geschlossenen Camps beginnen und schickte drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei, um das schwere Gerät zu begleiten. Nach zwei Tagen bürgerkriegsähnlicher Zustände, in denen sich die Bevölkerung gegen die Polizei stellte, wurden die Einheiten abgezogen; ob und wann und wo auf Lesbos es nun das angekündigte Camp gibt, ist wieder offen.  

    Inzwischen hat man den Eindruck, dass auf allen Seiten Misstrauen und Wut das Sagen haben, Verwirrung und Fake News das klare Denken unmöglich macht und die Angst um sich greift. Jeder scheint gegen jeden zu sein. Ich komme mir manchmal vor wie Alice im Wunderland, wo nichts so ist, wie man es erwartet: 

     

    - Das Camp ist im Moment der ruhigste Ort im Umkreis von Mytilene, während drumherum seit gut einer Woche der Mob zu herrschen scheint. „Zieht doch übers Wochenende ins Camp“, hat unser Camp-Polizeichef gescherzt, als ich vorgestern mit ihm besprach, ob meine Leute über die nächsten Tage wohl sicher sein würden. „Da ist alles friedlich!“ (Wobei „friedlich“ in Moria immer noch bedeutet, dass täglich im Durchschnitt ein Mensch mit einer Stichverletzung behandelt werden muss und bei Dunkelheit in den Olivenhainen das Recht des Stärkeren gilt. "Friedlich" oder sicher ist es für die Verletzlichsten im Camp nie.)

    - Flüchtlinge können sich im Moment ziemlich frei bewegen, während auf Flüchtlingshelfer regelrecht Jagd gemacht wird. Einige unserer Mädels hatten eine Pause im Hausarrest, den wir ihnen in der letzten Woche auferlegt hatten, für einen kleinen Cafébesuch genutzt. Prompt fanden sich in einschlägigen rechtsradikalen Chatgruppen Hinweise auf „vier Ausländerinnen, offenbar Mitarbeiterinnen einer Hilfsorganisation, die dort-und-dort gesichtet worden seien und an denen man doch ein Exempel statuieren könnte; sie hätten ja offenbar noch nicht begriffen, dass sie nicht erwünscht wären“. Sie schafften es zum Glück unbeobachtet rechtzeitig wieder zu ihrem Quartier zurück, aber so langsam ist es schwer, nicht paranoid zu werden. Unter ihnen waren die gleichen Mitarbeiterinnen, die nur wenige Tage zuvor von einem wütenden Mob von Einheimischen, der eine ihrer Scheiben einschlug, aus dem Auto gezerrt und nur durch das beherzte Eingreifen anderer Inselbewohner vor Schlimmerem bewahrt wurde. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen waren einige Tage lang regelrecht Freiwild. Kein Wunder, dass viele Hilfsorganisationen ihre Arbeit aussetzten und ihre ehrenamtlichen Helfer erst einmal im Sicherheit brachten!

    - Und die Epidemie ist gerade überall, nur nicht auf Lesbos: Corona hält, so kommt es mir beim Internet-Browsen vor, die ganze Welt in Atem, aber ausgerechnet auf Lesbos muss man bisher nicht befürchten, sich anzustecken. Wenn ich Zeit habe, ein bisschen in Sozialen Medien zu stöbern, wundere ich mich nur über die Panik, die gerade zu Hause um sich greift. 

     

    Wir gehen auf eine Katastrophe zu? In der letzen Woche dachte ich, wir seien mittendrin. Im Moment scheint sich manches wieder beruhigt zu haben und wir nehmen, nachdem wir unsere Volunteers für eine Weile von der Insel geschickt hatten, unsere Arbeit im Camp wieder auf. Aber dass Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Moment nicht konkret angegriffen werden und wir gerade nicht zu den Opfern gehören, sollte uns nicht über die eigentliche Katastrophe und die eigentlichen Opfer hinwegtäuschen: Über 19.000 Männer, Frauen und Kinder sitzen immer noch unter erbärmlichsten Bedingungen in Moria fest. Und einige Hundert musste man im Hafen in einem Frachtschiff der Marine unterbringen, weil man sie vor einer Woche gar nicht erst zum Camp durchgelassen hatte. Für sie sind wir hier. Und ihnen mit Liebe und Fürsorge zu begegnen, ist nach wie vor unser erstes Ziel.

    „So viele haben den Mut verloren und sind abgezogen. Warum bleiben Sie denn trotz allem hier?“, hat mich vorgestern eine Journalistin gefragt, und ich habe nicht lange zögern müssen: „Weil unsere Liebe zu den Menschen hier größer ist als unsere Angst.“

     

    (PS: Ich bitte um Verständnis, dass ich in den letzen Monaten nicht so viel zum Schreiben gekommen bin, wie ich gerne würde. Ich musste mich oft entscheiden, meine Arbeit zu TUN und mein Team hier zu leiten - oder darüber zu BERICHTEN. Irgendwie kam es mir nicht fair vor, Ersteres zu vernachlässigen, um Letzteres tun zu können...)    

    November 2019

    Déja-vu in Moria

    „In Griechenland kann ein Telefonanruf alles ändern“, meint mein Chef immer, und er ist Grieche und muss es wohl wissen. Genau diese Art von Alles-Veränderndem-Telefonanruf hat er mir vor einigen Wochen beschert: seit Ende des Sommers waren aus ganz verschiedenen Gründen und teilweise recht überraschend eine ganze Reihe der jungen Leute, die unsere Arbeit in Moria im letzten Jahr verantwortet haben, in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Von vorher neun Langzeitlern, die Moria und unsere Abläufe im Camp kannten, blieben plötzlich nur noch vier übrig, und von denen hatten weitere zwei ihren Abschied in den nächsten Monaten schon angekündigt. „Wir brauchen dich jetzt auf Lesbos mehr als auf Chios“, fasste mein Chef es nüchtern zusammen, und so bin ich vor einigen Wochen nach Lesbos und nach Moria zurückgekommen. Auch meine vorige Wohnung konnte ich wieder beziehen. Es fühlt sich ein bisschen komisch an – fast so, als wäre der Sommer mit all den Planungen für Chios nur ein kleines Zwischenspiel gewesen. Aber die Planungen auf der Nachbarinsel gehen weiter; Ehrenamtliche aus Deutschland, der Schweiz und Holland werden die Chios-Pläne in den nächsten Monaten weiter umsetzen. 

    Ich habe meinerseits nun die Verantwortung für das operative Geschehen von EuroRelief in Moria übernommen. Nachdem ich das Camp ja schon mehrere Monate aus der Perspektive der Warenlager-Chefin erlebt und darüber mein Buch geschrieben habe, ist mein neuer Einblick nochmal sehr, sehr anders. Aktuell habe ich statt mit Kleiderpaketen und Gabelstaplern mit dem Polizeichef und der Camp-Übergangsleitung zu tun, gehe zu Besprechungen von UNHCR und Sicherheitsdiensten, werde nachts angerufen, wenn in einigen Bereichen des Camps der Strom ausgefallen ist oder eine kleine Messerstecherei unter Freunden zu einem Gruppenkampf ausgeartet ist, verhandele im Wechsel mit griechischen Sozialarbeitern und arabischen illegalen Zelt-Besetzern, und versuche insgesamt die vielen Fäden wieder aufzuheben, die beim Weggang der früheren Kollegen fallengelassen worden sind. Mein neues Leben hier lässt sich eigentlich nicht beschreiben, aber ich werde es in der nächsten Zeit auf diesem Blog öfters wieder versuchen. 

     

    PS: Achso - und es gab in den letzten Monaten einige Berichte bzw. Interviews anlässlich meines Buchs: Je ein Online Artikel in evangelisch.de und im Schweizer BLICK, ein kleiner Beitrag in Chrismon, ein schönes Radiointerview und eine TV-Gesprächsrunde bei „Gott sei Dank“ sowie ein Gespräch mit Titus Müller bei "Auserlesen" für alle, die mehr nachlesen, -hören und -sehen möchten. 

    August 2019

    Kleiner Zwischenstand

    Seit Mai bin ich nicht mehr zum Bloggen gekommen: Zunächst war ich für diverse Tagungen und Schulungen in Deutschland und Ungarn. Ganz nebenbei habe ich das Buch fertig geschrieben - und im Moment merke ich, dass ich einfach mal eine kleine Schreib-Pause brauche. Als kleiner Zwischenstand nur soviel: ich pendele im Moment zwischen Lesbos und der Nachbarinsel Chios. Die Situation dort ist nicht besser als auf Lesbos, aber weil dort „nur“ gut 3000 Geflüchtete festsitzen (bei einer Kapazität für 800) und auch nicht so viele Hilfsorganisationen dort sind und auf die verheerenden Umstände aufmerksam machen als in Moria, bekommt man davon in unseren Medien noch weniger mit. 

    Meine Aufgabe ist herauszufinden, wie wir uns dort am besten nützlich machen können. Anfang September werden wir Hilfsgüter liefern, aber es geht sicher noch mehr! Die Not ist auch dort überwältigend, und was die Geflüchteten aus dem Lager berichten, ist haarsträubend.

    Irgendwann werde ich sicher auch dazu wieder etwas in den Blog schreiben…

    Freitag, 18.5.

    Windeln für Afghanistan

    „Need Kotex“, flüstert Masoumeh*, deutet auf sich und rückt so nahe an mein Ohr, wie es die kleine Theke unserer Windelausgabe erlaubt.  „You want diapers? Or pads?“, frage ich zurück. Braucht sie Windeln oder Damenbinden? Die junge Frau schaut mich unsicher an. „Kooo-tex“, sagt sie langsamer, und dann noch einmal, etwas lauter: „Kotex!“ Ich bin aber auch begriffsstutzig! Zum Glück ist Mahmoud, einer unserer jungen Farsi-Übersetzer, gerade unbeschäftigt, und ich rufe ihn zu Hilfe: „Kannst du sie bitte fragen, was sie braucht?“ Masoumeh muss ihre Bitte also nun diesem unbekannten jungen Mann ins Ohr raunen. Mahmoud sieht aus wie fünfzehn, ist aber volljährig und macht seinen Job  bei uns schon lange genug, um sich mit Windeln und Monatshygiene auszukennen. „Sie braucht Binden“, meint er ungerührt und geht zurück an seinen Platz an der Info-Theke. Masoumeh dankt mir leise und mit niedergeschlagenen Augen, als ich ihr diskret eine Vierer-Packung Damenbinden in die Hand drücke - so diskret, wie es der Trubel an unserer Windel-Ausgabe eben erlaubt, an der jeder zwangsläufig alles mitbekommt. Sie lässt das Päckchen schnell unter ihrer Strickjacke verschwinden und drückt sich mit hochrotem Kopf durch die Menschenmenge. Es muss doch einen besseren Weg geben, solche Anfragen zu handhaben, denke ich etwas ratlos, als ich ihr nachschaue. Immerhin werde ich beim nächsten Mal direkt „Kotex“ anbieten, wenn es Missverständnisse gibt. (Kotex ist eine Marke wie Tesa oder OB, lerne ich später aus dem Internet, aber es lässt sich einfacher merken als das offizielle Wort, das sich ungefähr „Nawar-e bedaschdi“ ausspricht.)   

    Masoumeh ist Afghanin. Sie kommt aus einer Kultur, in der sich Männer und Frauen in so unterschiedlichen Welten bewegen, dass es für unsereins kaum vorstellbar ist. Sie reden auch nicht miteinander. „Wenn einer von euch Jungs mich in Afghanistan besuchen würde“, hat es einer unserer Übersetzer einem unserer Helfer beschrieben, „würde er meine Mutter und meine Schwestern nicht einmal zu sehen bekommen - selbst wenn er vier oder fünf Wochen in unserem Haus mit lebte.“ Spätestens in Moria sind unsere Afghanen, die womöglich erst vor drei, vier Wochen ihr Land verlassen haben, reif für einen fetten Kulturschock. Da werden gestandene Männer von westlichen, unverhüllten Mädels um die Zwanzig ermahnt, sich doch bitte richtig in der Schlange anzustellen und nicht so zu drängeln. Da bringen amerikanische Jungs einen Arzt-Gutschein zu einem Zelt, sprechen die Frau des Hauses - ihr Mann ist gerade nicht da, aber wir klopfen ja so lange, bis jemand an den Eingang kommt! - ganz direkt an und schauen ihr womöglich noch in die Augen, was bei uns als höflich gilt, von ihr aber als schamlos und übergriffig wahrgenommen werden muss. Da muss eine junge Frau neben einer Schlange von Männern, die um Windeln für ihre Babys anstehen, nach Damenbinden fragen. Und mancher Ehemann kommt selbst her und bittet, oft genug mit einem schiefen Lächeln, um Monatshygieneproduke für seine Frau. Ich kenne genügend Männer selbst in Deutschland, denen das ganz schön peinlich wäre; für die POCs ist es umso unangenehmer, aber wir können auf solche Befindlichkeiten kaum Rücksicht nehmen. 

    Von solchen Überlegungen einmal abgesehen, mag ich die Windelausgabe sehr, in der ich in meinen Camp-Tagen in den letzten Wochen immer wieder einmal ausgeholfen habe, und das aus ganz verschiedenen Gründen. Erstens geben wir den Leuten etwas, das sie wirklich brauchen. Wo meine Kollegen vom „Housing“ oder am Info-Point sich mit viel Frust und unerfüllbaren Bedürfnissen herumschlagen, habe ich mit dankbaren Eltern zu tun. 

    Zweitens müssen wir hier nur selten Nein sagen, weil sich herumgesprochen hat, welche Windelrationen an wen ausgegeben werden: für ältere Kinder gibt es sieben Windeln in der Woche, für jüngere 14. Wer noch keinen Monat in Moria ist, bekommt mehr, und auch, wer mit Arzt-Papieren nachweisen kann, dass sein Baby Durchfall hat. Ausreichend sind die Windeln und Damenbinden nie, aber immerhin sind sie eine Ergänzung dessen, was die Bewohner sonst sehr teuer von ihren 90 monatlichen Euros kaufen müssten. Wir sind sehr dankbar für Sachspenden aus Holland, England und der Schweiz, die das möglich machen!

    Drittens riecht es in unserem Windelraum so schön frisch nach Baby-Feuchttüchern, weil wir die Packungen immer aufschneiden und in kleinere Päckchen unterteilen. (Wir wissen auch, dass sechs oder zehn Feuchttücher nicht wirklich für eine Woche mit einem Windelkind reichen, aber es ist eben auch nur eine Ergänzung.) 

    Und viertens finde ich es auch spannend, mit den Bewohnern direkt zu tun zu haben und dann, wenn ich die ausgegebenen Windeln in unserer Datenbank eintrage, etwas mehr über ihre Familienverhältnisse zu erfahren. Manchmal lassen sich hinter den nackten Daten schon schwierige Schicksale erahnen. 

    Sitayesh zum Beispiel ist 33 und mit drei Kindern zwischen 15 und 7 hier, aber ohne Mann. Was ist wohl ihre Geschichte? 

    Amal ist 44 und holt für sich und ihre vier Töchter - eine ist 15, zwei sind 14 und eine ist 12 - Damenbinden ab. Sie hat auch keinen Mann, aber noch einen Sohn von sieben Jahren. Ich hoffe, dass der Knabe starke Nerven hat, wenn die fünf weiblichen Wesen in seiner Familie alle gleichzeitig ihre Periode haben.

    Abdulfazi kommt selbst vorbei, um für seine Zweijährige Windeln abzuholen. Er trägt traditionelle afghanische Kleidung und ist vielleicht auch noch nicht lange genug hier, dass er den Frauen aus seiner Familie gestatten würde, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Er ist 48 Jahre alt, seine beiden Frauen Parwana und Melika sind 44 und 36, die zehn in seinem Haushalt gemeldeten Kinder sind in recht gleichmäßiger Verteilung zwischen 26 und 2 Jahren alt. Ich schaue in der Datenbank nach, ob diese 13 Menschen wirklich in einem einzigen Container leben, und es ist tatsächlich so. Wie sie es auf 18 Quadratmetern miteinander aushalten, ist mir schleierhaft. Wir bringen zwar auch sonst schonmal 14 oder 15 Leute in einem solchen Container unter, manchmal zwei oder drei Familien, aber es sind meistens mehr kleine Kinder dabei. Wie kommen die beiden Frauen, eine genau in meinem Alter, wohl miteinander aus, erst recht in dieser Enge? Sind sie dankbar, immerhin unter dem Schutz eines Mannes zu stehen, und finden sich mit der zweiten Frau ab? Eine Wahl hat man ihnen beiden vermutlich ohnehin nicht gelassen. Wie läuft überhaupt das Asylverfahren für Familien, in denen ein Mann mehrere Frauen hat? 

    Asal ist 25, ihr Mann Hekmat 43, die vier Kinder zwischen fünf und einem halben Jahr alt. Die beiden Jüngsten haben Durchfall. Wir geben Windeln bis zum Alter von 5 Jahren aus, so dass Asal mit einem riesigen Paket unsere Theke verlässt. Vier Windelkinder und Durchfall an einem Ort wie Moria - was für ein Alptraum! Trotzdem sind, wenn ich richtig rechne, eine ganze Reihe der Moria-Babys geboren worden, nachdem ihre Eltern schon deutlich mehr als neun Monate hier lebten. Ich finde es faszinierend, dass hier Kinder gezeugt werden, oft genug das siebte oder achte in einer Familie. Sie werden so selbstverständlich in diese elende, perspektivlose Flüchtlings-Welt hineingesetzt, dass ich staune. Manche Familien hoffen, mit einem Neugeborenen schneller das Camp verlassen zu können, aber eine Garantie dafür gibt es nicht. 

    Narges ist 19 und hat drei Kinder; das Älteste hat sie, so rechne ich nach, mit knapp unter fünfzehn Jahren bekommen. Ihr Mann Mehdi holt die Windeln für die Familie ab; er ist 23 und fragt sehr respektvoll nach den Regeln an unserer Windelausgabe. Er spricht auch gut Englisch. „Wir sind erst seit einigen Tagen hier und kennen uns noch nicht so gut aus“, sagt er entschuldigend. „Meine Frau wäre gerne selbst gekommen, aber sie ist schwanger, und es geht ihr hier nicht so gut.“ Kein Wunder. Schwangere müssen nicht fasten, aber der Ramadan, der vor fast zwei Wochen begonnen hat und zumindest nach außen hin von erstaunlich vielen Bewohnern eingehalten wird, hat die Leute zusätzlich müde und schlapp gemacht. Und er ist wohl auch dafür verantwortlich, dass unser Info-Point und die Windelausgabe in diesen Wochen nicht ganz so überlaufen sind wie sonst. Es liegt eine schwerfällige Müdigkeit über dem Camp. Viele Leute bleiben den Tag über in ihren Zelten und Containern und bewegen sich nicht mehr als nötig. 

    Mostifa, ebenfalls aus Afghanistan, kommt mit seiner winzigen Tochter vorbei: Die kleine Munira hat einen vollen schwarzen Haarschopf und ist erst acht Tage alt; sie ist noch gar nicht in unserer Datenbank erfasst. Während meine Kollegin im EuroRelief-Container das nachholt, darf ich die Kleine ein bisschen hinter dem Ohr streicheln; am liebsten würde ich sie ein Weilchen halten, aber sie schläft gerade, in ein Tuch gewickelt, so friedlich auf dem Arm ihres Papas. „Gott segne dich“, sage ich ihr leise ins Ohr, „und schenke dir, dass du in Frieden aufwachsen kannst.“ Nicht ganz so friedlich, aber trotzdem süß, ist Haweeyo, eine energische Zweijährige aus Somalia. Sie nimmt auf dem Arm ihrer Mutter Afrika die Windeln gleich selbst entgegen und versucht mich dabei an den Haaren zu ziehen und auf die Nase zu boxen. 

    Viel Zeit, um mit den Kleinen zu schäkern, haben wir nicht. Da stehen ja noch Hishmatula und Sabir, Emad und Mushbulrahman, Dilyar und Khaibar in der Männerschlange, Khatoun und Farideh, Rhadan und Torpekai, Murina und Najia in der Frauenschlange, von den vielen Mohammeds und Ahmeds, Ayshes und Fatimas ganz zu schweigen. Es führt oft genug zu Heiterkeit, wenn meine Kollegin oder ich mit den Windelpaketen, die wir in einem kleinen Container individuell zusammenstellen, an die Theke zurücktreten und die Namen aufzurufen versuchen. Manchmal ist es ein Gemeinschaftserfolg, bis wir nach mehreren Versuchen einen Namen so aussprechen, dass sich der oder die Gesuchte auch angesprochen fühlt. 

    Ich finde ihre Namen so schön klangvoll und gehe gerne sozusagen zwischen ihnen allen in der Datenbank spazieren. Wenn da nicht die Fotos wären, die es hier zu jeder Person gibt! Ich schaffe es nie lange, in die Gesichter unserer Bewohner zu sehen, wie sie hier in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft festgehalten sind: Diese verwundeten Augen, dieser zutiefst verstörte Blick. Ganz wenige - vor allem unter den Frauen - haben es geschafft, direkt in die Kamera zu schauen, noch weniger, auch nur den Ansatz eines Lächelns zu zeigen. Viele sehen zwanzig Jahre älter aus, als ihre Papiere sie ausweisen. Zum Glück stehen diese Menschen nun als Personen hier, und wenn ich sie anstrahle, lächeln viele von ihnen ganz automatisch zurück. 

    Ich habe mich in der Vergangenheit manchmal gefragt, ob es eigentlich angemessen ist, Leute in einer Notlage überhaupt anzulächeln; ist das nicht fast ein bisschen zynisch? Ich habe ja gut lachen; ich gehe nach Schichtende in mein bequemes Leben zurück! Eine irakische Kollegin hat mich diesbezüglich beruhigt, als sie mir beim Abschied nach einer meiner Reisen in ihr Land zusprach: „Behalte dir dein Lächeln! Es ist ein Heilmittel für fast alles!“ Ein Heilmittel, das nichts kostet! Seit ich hier bin, gab es oft Zeiten, in denen mir wirklich nicht so recht fröhlich zumute war; manchmal habe ich morgens im Gebet um eine Extra-Portion Lächeln bitten müssen, um sie an Menschen weiterzugeben, die hier verzweifeln. 

    Und nun merke ich: Das ist doch wirklich kein schlechter Dienst. Wir dürfen Windeln ausgeben, Damenbinden - und ein Lächeln. 

    (* All die Namen sind echt und die Personen auch; aber ich habe sie ein bisschen durcheinander geschüttelt!)

    Mittwoch, 17.4.

    Mit anderen Augen

    „Meinem ersten Patienten habe ich gleich fünf Zähne ziehen müssen“, stöhnt Alex, ein junger Zahnarzt, beim gemeinsamen Abendessen. Er ist seit Samstag mit einem GAiN-Team aus Großbritannien hier, hat sich für seine Woche auf Lesbos aber einer anderen Hilfsorganisation angeschlossen - einer Zahnarzt-Initiative, die vor allem Zähne zieht, so könnte man meinen. Zumindest ziehe ich ihn damit auf.

    „Es ist wirklich nicht so einfach“, verteidigt sich Alex. „So viele der Leute, die mit schlimmen Schmerzen oder Beschwerden zu uns kommen, haben völlig verrottete Zähne. Wir können Füllungen machen oder eben Zähne ziehen, alles andere ist zu aufwändig.“ Bei vielen der Moria-Bewohner, die aus armen und ungebildeten Familien kommen, ist Mundhygiene völlig unbekannt; schon manche Kinder haben so grauslich schiefe und kaputte Zähne, dass man wirklich kein Profi sein muss, um zu ahnen, dass ihnen ihr Gebiss in naher Zukunft viel Kummer machen wird. 

    Dabei ist es nicht nur eine Frage der Kosten, dass Wurzelbehandlungen, Kronen oder Zahnspangen nicht zum Repertoire der ehrenamtlichen Zahnärzte im Camp gehören: Niemand weiß, wie lange ein Patient noch in Moria ist und wo er hinkommen wird, wenn er das Lager verlässt. „Wenn man wüsste, dass jemand an einen Ort mit einer halbwegs anständigen Krankenversorgung verlegt wird, könnte man sicher mehr tun“, meint Alex, „aber wenn die Leute in ihre Länder zurück geschickt werden und wir irgendetwas mit ihren Zähnen angefangen haben, das dann nicht fortgesetzt werden kann…“ Er hat sich innerhalb weniger Stunden daran gewöhnen müssen, sich nach einem bisschen Betäubung kleine Kinder unter den einen Arm zu klemmen und mit dem anderen dann einen oder mehrere Zähne zu ziehen. Er beschreibt solche Prozeduren, die mit viel Zetern und Zerren verbunden sind, mit britischem Understatement. „Die Leute sind dann alle ausnahmslos dankbar, wenn sie den Zahn und die Schmerzen los sind“, versichert er mir. Für ihn ist es eine ungewöhnliche Berufserfahrung, von der er nicht weiß, inwieweit sie ihm zu Hause nützen wird. „So viele Zähne wie hier in einer Woche werde ich in England wohl den Rest meiner Karriere nicht mehr ziehen“, meint er.

     

    Ich habe in den letzten Wochen öfters die Einführungsveranstaltungen für neue Teams gehalten und dabei gelernt, das Camp immer wieder mit den Augen anderer zu sehen. An so vieles, was schrecklich ist, habe ich mich schon sehr gewöhnt - und andererseits sehe ich auch manches nicht, das sich wirklich verbessert hat. Der Müll zum Beispiel quillt nicht mehr über, und es sieht im Moment wirklich recht aufgeräumt aus, zumal wir nur rund 5000 Bewohner haben statt Ende letzten Jahres noch 9000. Es ist auch deutlich ruhiger im Camp. Seit ich im November hier ankam, haben wir nur ein einziges Mal aus Sicherheitsgründen das Team einer Abendschicht evakuieren müssen. „Ich habe meine Leute drauf eingestellt, dass hier alles immer totales Chaos ist und alle ständig aufeinander losgehen“, meint zum Beispiel Dan, der vor einem Jahr zum letzten Mal hier war. „Damals sind wir in einer Woche dreimal evakuiert worden. Aber jetzt? Es ist so schön ruhig und sauber hier. Mein Team denkt, ich habe total übertrieben bei meinen Erzählungen!“

    Total übertrieben - diese Formulierung fällt mir auch des Öfteren ein, wenn mal wieder ein Artikel durch die Medien geistert, in dem Moria als die „Hölle“ beschrieben wird, in der sich offenbar ständig irgendwelche Leute gegenseitig die Kehle durchschneiden. („Vor kurzem haben sie vier von unseren Leuten umgebracht“, wird in einem aktuellen Dokumentarfilm ein junger Mann zitiert, und „es gibt überhaupt keine Sicherheit!“ Ich bin sicher, dass wir von einem vierfachen Mord gehört hätten - nicht zuletzt durch die Polizei, die auf dem Gelände durchaus deutlich präsent ist.) 

     Vielleicht haben wir, die wir hier länger sind, einen gewissen Beschützerinstinkt gegenüber der Umgebung entwickelt, in der wir arbeiten, und reagieren bei Übertreibungen etwas empfindlich. Unwahrhaftigkeit sollte doch nicht nötig sein, um Verständnis für die Situation hier zu wecken? Manches war vielleicht tatsächlich vor einem Jahr wahr, ist aber inzwischen nicht mehr ganz so dramatisch. Anderes ist nach wie vor katastrophal und zum Weinen - die inhumane Überbelegung und die gesundheitlichen Schwierigkeiten unserer Flüchtlinge zum Beispiel, oder die Situation unserer vielen unbegleiteten Minderjährigen. Manchmal posten oder mailen die Freunde zu Hause Artikel und Nachrichten über Moria, und ich weiß nicht so recht, wie ich reagieren soll. Wie kann man den Widerspruch kommunizieren, dass es nicht ganz so schlimm und gleichzeitig viel schlimmer ist? 

    Dienstag, 26.3.2019

    Matratzen

    Gestern haben die Griechen ihren Nationalfeiertag gefeiert: vor knapp 200 Jahren haben sie sich aus dem Osmanischen Reich herausgelöst. Diesen griechischen Unabhängigkeitstag feiert man offenbar auch in der Türkei. Wie sonst lässt sich erklären, dass gleich vier Boote es an der türkischen Küstenwache vorbei nach Lesbos geschafft haben? 188 Menschen sind gestern angekommen, 58 in einem weiteren Boot heute. („Das ist doch gar nichts“, winken die Kollegen ab, die schon länger hier sind. „Letztes Jahr hatten wir an dem einen Tag fast 400 New Arrivals!“) Sie alle unterzubringen, ist die Hauptherausforderung dieser Tage. Dass sich unter diesen 246 Menschen 59 „Araber“ befinden (die Syrer und Palästinenser und vereinzelten Iraker laufen bei uns unter der Sammelbezeichnung, auch wenn wir sie nach Volksgruppen und nicht nur nach Sprachen getrennt unterzubringen versuchen), macht das Ganze doppelt schwierig: Es ist nicht ganz einfach, in einem vorwiegend afghanisch geprägten Camp für fünf Dutzend Araber Quartiere zu schaffen.

     

    Dazu kommt, dass wir in diesen Tagen rund 1100 alte Matratzen gegen neue austauschen. Die gute Nachricht: Über tausend Menschen bekommen eine frische Schlaf-Unterlage! (Es betrifft zwar nur die POCs, die ohnehin schon nobel in einem Container wohnen und ein Stockbett haben, aber immerhin!) Spender aus Holland haben es möglich gemacht, sie in Athen einzukaufen, und alle paar Tage nehme ich im Moment im Warehouse einen LKW voller Matratzen entgegen, die dann nach und nach ins Camp gebracht werden. Es macht Freude, diese frischen, jungfräulich weißen Schaumstoff-Dinger zu stapeln! Und weil wir seit einigen Wochen ein „Box-Truck“ genanntes größeres Transportfahrzeug haben, ist der Transport zum Camp ein wahres Kinderspiel, zumal wir für einige Monate einen amerikanischen LKW-Fahrer unter den Helfern haben. Wunderbar!  

     

    Die schlechte Nachricht? Die alten Dinger müssen entsorgt werden. Um sie zu entsorgen, muss man sie im Camp von den POCs entgegen nehmen, in unseren Fahrzeugen stapeln, zum Warehouse schaffen und dort lagern, bis eine endgültige Lösung gefunden ist. Schon seit Wochen versuchen die Verantwortlichen im Camp und im Büro außerhalb eine solche Lösung zu finden, scheitern aber immer wieder an der griechischen Bürokratie: Kann die Gemeindeverwaltung die Dinger mit einem Müllwagen abholen lassen? (Es dauert Tage, bis wir die Antwort haben: Nein!) Können wir sie zu der Müllhalde bringen, bei der wir sonst auch unseren größeren Müll abliefern? (Mehrere vergebliche Fahrten ergeben: Nein!) Was ist mit der größeren Müllhalde eine halbe Stunde entfernt? (Nach langem Hin und Her erhalten wir endlich die Antwort: Ja! Aber es ist mit viel Papierkram verbunden. Und auf Lesbos bedeutet Papierkram tatsächlich das: Es werden Papiere ausgefüllt - teils mit der Hand - und in echten Ordnern abgelegt. Die Digitalisierung scheint hier noch nicht so recht angekommen zu sein. Achso - und die Formulare sind natürlich auf Griechisch…)

     

    Ich habe mich heute mit besagtem amerikanischen LKW-Fahrer zum Matratzen-Transport einteilen lassen, und hantiere den ganzen Tag mit den versifften alten Schaumstoffdingern. Der Austausch war dringend nötig: Die Matratzen lagen schon - und wer weiß wie lange? - auf den Stockbetten, als meine langjährigsten Kollegen hier einstiegen, also vor ungefähr drei Jahren. Im Kommen und Gehen von Bewohnern hat niemand die Matratzen besonders geschont oder je gereinigt, und die meisten haben keine Hülle, kein Betttuch oder ähnliches. Wir fragen lieber nicht nach, was die vielen braunen und gelblichen Flecken auf den Matten zu bedeuten haben; und warum sehen manche überhaupt so angekokelt aus? Weil es im Camp neben Krätze und Wanzen so ziemlich jede Haut- und sonstige Krankheit gibt, wollen wir auch lieber gar nicht wissen, was wir hier heute alles mit den Matratzen mittransportieren. Aber es ist eben auch Teil unseres Dienstes, und die Aussicht, dass die Leute nun eine frische Unterlage haben, motiviert uns durch einen Tag mit einigen Ekel-Erlebnissen hindurch. Die Stapel mit alten Matratzen, die wir erst im Camp, dann neben dem Warehouse aufbauen, stinken erbärmlich schon aus mehreren Metern Entfernung; die Vorstellung, dass heute morgen noch Menschen ihre Köpfe darauf gelegt haben, lässt mich erschaudern. Und trotzdem betteln immer wieder POCs um die alten Matten. Versifft oder nicht - sie sind hoch begehrt bei Menschen, die bisher auf Plastikmatten und Pappe schlafen. Aber wir wollen wirklich nicht, dass  die ungesunden Dinger weiter zum Einsatz kommen, und so postiere ich mich im Lauf des Tages im Camp immer wieder neben Matratzenstapeln. Immer wenn jemand um eine der alten Matratzen bittet, wedele ich wild mit den Armen, rufe „no good, no good“ und mache Hust- und Kotzgeräusche. Das überzeugt offenbar .

     

    Als ich an diesem Abend nach Hause komme, ziehe ich schon im Treppenhaus meine stinkenden Klamotten aus und stopfe sie in die Waschmaschine, bevor sie mit irgendetwas in Berührung kommen. Ich bin nach der ganzen Schlepperei des Tages müde, aber echt zufrieden. „Moria no good“, ist so ein Standardspruch unter den POCs, den wir, quasi aus Solidarität, mit übernommen haben. Aber manchmal gibt es eben doch auch Verbesserungen. Neue Matratzen zum Beispiel. Und die will ich feiern!

    Mittwoch, 13.3.

    Vier Afrikaner

    Zu blöd, dass die Straßen hier oft so schlecht befestigt sind! An der langgezogenen Straße vor Camp Moria stehen die vielen privaten Autos von Polizisten und Soldaten, Ärzten, Beamten, Hilfswerksmitarbeitern und sonstigen Leuten, die in Moria zu tun haben. Wer morgens früh genug ist, ergattert einen guten Platz ohne allzu lange Laufstrecke zum Eingang. Ich komme diesmal am Mittag, um an einem der Imbissstände vor dem Camp, Kantinas genannt, Sandwiches für meine Helfer zu besorgen. Ich fahre die Straße erfolglos hinauf und hinunter und beschließe schließlich, meinen Ford längs zwischen zwei Autos zu quetschen. Der Straßenrand ist hier nicht befestigt und ich kann schlecht einschätzen, wie viel Platz ich habe. Ich habe schon ein mulmiges Gefühl, als ich aussteige: Das rechte Hinterrad liegt nur noch mit zwei, drei Zentimetern auf der Straße auf, der Rest hängt über einem kleinen Abhang, der nicht sehr steil, aber eben doch deutlich abschüssig vielleicht eineinhalb Meter nach unten führt. Oh weh! Ich steige vorsichtig wieder ein, lege den ersten Gang ein, spiele mit der Kupplung und versuche ganz behutsam die Handbremse zu lösen. Das Auto rollt noch einige Millimeter nach hinten. Das wäre jetzt ein guter Moment, Panik zu schieben, denke ich und ich schicke ein kleines Stoßgebet zum Himmel: Gott, kannst du vielleicht gerade vier von diesen kräftigen Kamerunern vorbeischicken, an die wir kürzlich die XL-Jacken ausgegeben haben? Irgendwer muss mein Auto wieder auf die Straße hieven, sonst landet es in dieser Böschung! 

    Statt der erbetenen vier Afrikaner kommen zwei spillerige Afghanen vorbei. Ich lasse die Scheibe herunter, ohne mich mehr zu bewegen als nötig: Könnt ihr mir helfen?, deute ich nach hinten. Sie fackeln nicht lange, springen in die Böschung und schaffen es tatsächlich, meinen Theodor Ford wieder auf die Straße zu befördern. (Ich habe meinen C-Max „Geschenk Gottes“ genannt, weil Freunde ihn mir geschenkt haben. Einfach so! Vor vier Wochen habe ich ihn aus Deutschland hierher gefahren.) Bevor ich mein „Teschakor“ losgeworden bin, sind sie schon wieder weg. Erst in der Kantina merke ich, dass meine Hände zittern. Das hätte echt schief gehen können. 

     

    Im Warenlager ist es heute recht ruhig. Ich habe nicht so viele Helfer zugeteilt bekommen, wie ich eigentlich erwartet habe, weil 300 Leute aufs Festland verlegt werden sollen und deswegen die Ehrenamtlichen im Camp dringender gebraucht werden. Aber wir kommen gut zurecht und haben sogar etwas Zeit, mit Romana zu spielen: Sie ist ein Katzenbaby, das ein Flüchtling vor zwei Wochen an den Infopoint gebracht hat: „No mother“, hat er gemeint und das kleine Fellbündel meinem Kollegen in die Hand gedrückt. („Solange sie uns nicht ihre Kinder übergeben, die „no mother“ haben...“, meinte der nur trocken.) Kleine Katzen und Hunde haben im Camp keine gute Überlebenschance. Die meisten POCs kommen aus Ländern, in denen man die Verzärtelung von „Haustieren“ ohnehin nicht kennt und unerwünschte Tiere mit Schlägen, Tritten und Steinen verscheucht. Dazu kommt, dass manche Kinder ihre Traumata an den Tieren ausagieren. Im Winter haben wir ein kleines Kätzchen aus einer Toilette gezogen und später nochmal aus den Händen von Kindern befreit, die es über ein offenes Feuer hielten – wollten sie es nur trocknen oder quälen? Es ist nicht immer leicht, an die harmlosere Erklärung zu glauben. „Als ich mitbekommen habe, wie ein Dreijähriger ein Katzenjunges gegen die Wand geschleudert hat“, meinte eine junge Kollegin kürzlich, „wusste ich nicht, für wen ich mehr Mitleid empfinden sollte.“

    Romana soll überleben. Nach Roman, einem wunderbaren Schweizer Helfer der Wintermonate, benannt, gehört die Kleine nun offiziell einer holländischen Ehrenamtlichen, die aber eine Mitbewohnerin mit Katzenallergie hat. Also wird sie von unserem amerikanischer Fahrer aufgezogen, der auf einem Bauernhof aufgewachsen ist und sich mit kleinen Kätzchen auskennt; inzwischen ist sie etwa vier Wochen alt. Tagsüber ist sie im Warenlager und meine Helfer und ich füttern und bespaßen sie bei Bedarf. 

    Ein junges Pärchen hat im Camp an diesem Mittag einige unschöne Erfahrungen gemacht und ist ziemlich verstört; ihr Teamleiter bringt sie kurzfristig zu mir, damit sie etwas Abstand von der normalen Camp-Arbeit bekommen. Mein Warenlager dient auch sonst des Öfteren als eine Art Therapiezentrum für Ehrenamtliche, die nach emotional aufreibenden Camp-Tagen eine Pause brauchen, sich aber trotzdem nützlich machen wollen, und das Kätzchen mausert sich zur Therapiekatze: Die beiden verbringen ein entspanntes Viertelstündchen mit Katzenkuscheln und beruhigen sich wieder. 

    Etwas weniger entspannt wird es, als unser Fahrer Aziz mitbringt, einen Afghanen Anfang Zwanzig, dem es im Moment auch nicht so gut geht. Gestern haben wir in der Teamsitzung noch für ihn gebetet. Er ist, wie ja die meisten hier, traumatisiert und sehr verletzlich. Er hat es nicht gut verkraftet, dass einige unserer jungen Männer, mit denen er sich angefreundet hatte, nach ihrem Einsatz in Moria wieder in ihre Heimatländer zurück kehrten. Vor zwei Tagen hat er sich so kräftig in die Unterarme geschnitten, dass er ins Krankenhaus musste. Jetzt ist Aziz wieder da und folgt nun also unserem Fahrer wie ein Schatten. Ob das gut geht? Er wirkt überdreht und sein „Kuscheln“ mit Romana fällt so ruppig aus, dass ich kaum hinschauen mag. Seit es warm geworden ist und wir alle in T-Shirt herumzulaufen beginnen, mag ich auch da kaum hinschauen: Aziz' ganzer Arm ist bis fast hinauf zur Schulter ein feines Zickzack-Muster von Narben, "als wäre er im Krieg gewesen", wie es einer unserer jungen Helfer erschüttert formuliert hat. Aber seinen Krieg führt im Moment gegen sich selbst. 

    Dass gerade unsere minderjährigen Jungs selbstverletzendes Verhalten an den Tag legen, ist nichts Außergewöhnliches. Etwa die Hälfte von ihnen "ritzen" sich, meint mein holländischer Sozialarbeiter-Kollege, der ihren besonders geschützten Bereich im Camp betreut. (Längst nicht alle finden in diesem Bereich Platz; manche hausen über Monate mit im Bereich der "New Arrivals", weil sie ohne erwachsenen Vormund nicht im normalen Camp untergebracht werden dürfen.) Viele von ihnen fügen sich tiefe Wunden zu, um überhaupt irgendetwas zu empfinden, wenn sie sich taub fühlen, andere als Mutprobe: Wer kann am tiefsten schneiden, ohne zu weinen? "Der Boden soll mein Blut haben", hat Aziz einer Kollegin erklärt; was das bedeuten soll, hat sie nicht verstanden. 

    Ein überfüllter Raum in der Größe eines doppelten Containers als Durchgangs-"Zuhause", keine Schule oder sonstwie sinnvolle Betätigung, eine international durchmischte Gruppe traumatisierter Halbstarker als "Familie" -  Pubertät im Camp ist weder für die Jungs ein Spaß noch für die Leute, die sie betreuen. 

    Als einer von sehr wenigen Menschen im Camp wird Aziz nun immerhin psychologische Hilfe bekommen. Eigentlich müsste man Leute wie ihn sofort aus einer Umgebung wie Moria herausnehmen, in der bestimmt keine Heilung, sondern allenfalls eine weitere Traumatisierung auf sie wartet. Wenn man damit anfinge, wäre Moria sicher bald sehr leer... 

     

    Zum Schichtende werden meine Helfer zum Camp zurück gebracht. Ich räume noch ein bisschen auf und bringe einige Klamotten mit Flecken und Rissen zum Müllcontainer am Straßenrand. (Man wundert und ärgert sich manchmal wirklich, was die Leute zu Hause alles zur Kleiderspende geben!) Dabei stoße ich auf Marko, einen der Roma aus der Umgebung. Er wühlt durch unseren Müll und ist, wie eigentlich immer, etwas alkoholisiert. (Ich bin nicht sicher, ob er wirklich Marko heißt, wie einer unserer früheren Fahrer herausgefunden haben wollte. Wir können uns so schlecht verständigen.) Ich war in den letzten Wochen manchmal genervt von Roma-Familien, die samt ihren Kindern bei uns aufschlagen. Meistens versuchen sie sich ins Warenlager zu drängen und fordern dann ziemlich aggressiv, auch etwas von den vielen Gütern abzubekommen, die sie in unseren Regalen sehen. Es ist schwer zu vermitteln, dass wir schon aus rechtlichen Gründen all diese Sachen wirklich nur an die POCs im Camp abgeben dürfen. 

    Wenn sie Flüchtlinge wären und in Moria lebten, würde ich ihnen anders und mit mehr Geduld begegnen, habe ich dann beschämt gemerkt. Wenn wir „jedem Menschen mit dem höchsten Respekt begegnen“, wie uns bei fast jeder Morgenbesprechung eingebleut wird – gilt das etwa nicht für Roma? Wer ist denn mein Nächster, wenn ich eben nicht direkt im Camp, sondern im Warenlager arbeite?

    Ich halte Marko die Jacken also mit einem Lächeln entgegen statt mit der grimmigen Miene, die er sonst von mir gewohnt ist. „Guck mal, ist da was für dich dabei?“ Er findet tatsächlich ein schmutziges, aber warmes Karohemd und eine zerschlissene Winterjacke und zieht beides gleich am Straßenrand an. Armer Kerl, denke ich, als ich aus den Augenwinkeln seinen ausgemergelten Oberkörper sehe. Unsere Flüchtlinge sind wirklich nicht die einzigen, die hier auf Lesbos ein bisschen Barmherzigkeit gebrauchen können. 

    Dienstag, 5.3.2019 

    Zwölf Quadratmeter

    Wann habe ich eigentlich zuletzt eine Hacke geschwungen? Heute bekomme ich jedenfalls die Gelegenheit dazu: Zusammen mit vier anderen Helfern und bewaffnet mit Hacken, Schaufeln und einem Rechen rücke ich in den „Dschungel“ aus, den Olivenhain außerhalb des eigentlichen Camps. Wir werden dort an einigen Stellen den Boden ebnen und vier der UN-Familienzelte aufbauen, wie ich sie schon kenne. Es ist ein bisschen wie ikea-Regale aufbauen: eigentlich intuitiv, aber es lohnt sich, vorher mal einen Blick in die Anleitung geworfen zu haben... Ich habe im Januar schon einige dieser Zelte mit aufgebaut und kann es inzwischen im Schlaf: Vor zwei Tagen habe ich davon geträumt.

    In den letzten Monaten bei all der Kälte und dem furchtbaren Dauerregen haben es die Behörden geschafft, mehr Leute aufs Festland zu verlegen, als angekommen sind. Ich habe manchmal den Eindruck, dass man gerade genug tut, um Todesfälle oder Aufstände zu vermeiden – und damit die Diskussionen und Forderungen nach Schließung des Camps, die in den Medien zweifellos wieder aufflammen würden. Statt gut 9000 Menschen, die im November in Moria lebten, hatten wir deswegen Ende Februar nur noch etwa 5000. Wir konnten das Camp so konsolidieren, dass die meisten Menschen im „echten“ Camp in Containern, Life Sheltern aus Aluminium und großen Familienzelten unterkamen. Jetzt sieht es im Dschungel regelrecht ordentlich aus: viele kleinen Zelte und selbstgebauten Strukturen sind abgebaut worden, und nur vereinzelte größere Strukturen stehen in einem Abstand voneinander, der schon fast so etwas wie Privatsphäre bietet. 

    Das wird nicht so bleiben. Der Winter ist vorbei. Der Schnee, der für die letzte Woche angekündigt war, hat sich auf die Bergspitzen beschränkt, und es sieht so aus, als würde es nun schnell immer wärmer werden. Entsprechend gering scheint der Anreiz zu sein, die Bevölkerungszahlen in Moria weiter niedrig zu halten. Es kommen also täglich mehr Menschen an als in den Wintermonaten – in den letzten beiden Tagen waren es wieder 166 – und es werden gleichzeitig weniger aufs Festland verlegt. Wir werden wieder beginnen müssen, die Leute in Zelten und im Dschungel unterzubringen. Wie mein Warenlager auch, scheint das Camp im Rhythmus der Jahreszeiten aus- und einzuatmen. Es füllt sich, es leert sich, es füllt sich...

     

    Es ist ein herrlicher, sonniger Tag bei 16 Grad, an dem wir dem unebenen Boden zu Leibe rücken und Flächen schaffen, auf denen die 23-Quadratmeter großen Zelte (Innenmaß 4 x 4 Meter) stehen können. Einige Afghanen schauen vom Rand her zu; sie sind immer fasziniert und ein bisschen fassungslos, wenn unter uns Helfern auch Frauen sind – darunter oft genug auch junge Amerikanerinnen aus mennonitischen und amischen Gruppen, die in ihren knöchellangen Röcken oder Trachten arbeiten. Najeeb ist der erste Zuschauer, der sich zu unserer Gruppe gesellt und beherzt zur Schaufel greift: „Mechaniker“ sagt er und deutet auf sich. Im Lauf des Tages kommen zwischen dem Anstellen fürs Essen, ihren Arzt- und Behördenterminen ein halbes Dutzend der Afghanen aus der Nachbarschaft immer wieder für ein Viertelstündchen hier und zwanzig Minütchen dort vorbei und packen mit an. Einer („Hamid, Ingenieur“) nimmt mir glatt die Hacke aus der Hand. Kann man ja nicht mit ansehen, wie sich die Tante da abquält, scheint er sich zu denken. 

    Es gibt mir die Gelegenheit, auf einem Felsbrocken eine Verschnaufspause einzulegen und mit drei kleinen Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, zu kuscheln, die um uns herumpurzeln. Ich bekomme eine Haarspange auf den Kopf geklipst, die völlig verrostet, aber noch erkennbar rosafarben ist. Mein Fingernagel – und ein Großteil des Fingers drumherum – wird mit grünem Filzstift „lackiert“. Mein Walkie-Talkie schmücken schnell die ersten Gänseblümchen des Jahres. 

    Ein Kameruner kommt auf seiner Abkürzung zur Straße in unserem Afghanen-Bereich vorbei. „Sind das die UN-Zelte?“, fragt er nach. „Wie viele Leute kommen denn da rein?“ Ich schaue auf den Plan, den die Kollegin vom „Housing“ aufgezeichnet hat: In jedem der vier 2x2-Meter-Abteile, in die man das Zelt unterteilen kann, bringen wir drei oder vier Menschen unter. „Das ist doch alles viel zu eng!“, schüttelt er den Kopf. „In meinem Life Shelter könnten wir gut zu fünft wohnen, aber wir sind zu siebt, die nebenan sogar zu acht.“ Ich weiß. „Naja, wie auch immer“, verabschiedet er sich. „Gott segne euch!“ „Danke, dich auch!“

     

    Gegen drei sollen die ersten Familien einziehen, und ich gehe noch schnell einige der großen Planen holen, die wir über die Zelte legen. Ich schaffe es kaum, das kompakte 23-Kilo-Paket den steilen Moria-Berg heraufzuschleppen, und setze es auf halber Strecke kurz auf einem Müllcontainer ab, um zu verschnaufen. Ein Afghane vielleicht Mitte, Ende Dreißig, drückt sich um mich herum und schaut verlegen links und rechts an mir vorbei. Ich ahne, dass er mir helfen möchte. Aber vielleicht hat er noch nie direkt mit einer Frau kommuniziert, die nicht zu seiner Familie gehört. Es ist für viele unserer Neuen ein ungeheurer Kulturschock, wie unverblümt wir miteinander und mit ihnen umgehen. Ich schaue ihn an, ohne ihm in die Augen zu schauen, und schiebe mein Paket etwas in seine Richtung. „Würdest du das für mich tragen?“, frage ich auf deutsch. Er strahlt, reißt mir das Päckchen fast aus der Hand und schleppt es zu unseren Zelten. 

    „Und wie ist das mit der Elektrik?“, fragt Abdul-Qadir, der mit seiner Frau und zwei Kindern in einem unserer Vier-Quadratmeter-Luxus-Apartments einzieht. Mein Kollege zuckt mit den Achseln. Offiziell gibt es hier im Olivenhain außerhalb des Lagers keine Elektrizität und auch keine Sanitäranlagen; es ist Privatgelände. Was auch immer hier von den POCs selbst an Infrastruktur aufgebaut und angelegt wird, ist allenfalls geduldet. Abdul-Qadir wird schnell von seinen Nachbarn lernen, wo und wie man am besten den offiziellen Strom abzapft. Helfen dürfen wir ihm dabei nicht. 

     

    Eine Großfamilie kommt noch nicht, wie erwartet, um ihren Bereich in einem der neuen Zelte zu beziehen. Es sind neun Personen: Vater, Mutter, vier Kinder, eine Oma, eine Tante und ein Onkel, die verständlicherweise zusammen wohnen möchten. Wir haben ihnen drei der vier „Abteile“ in einem der neuen Zelte reserviert, ohne schon Trennwände einzuziehen; am besten organisieren sie sich selbst, wie sie sich auf ihren 12 Quadratmetern aufteilen möchten. „Die Familie will nicht in dieses Zelt, wenn sie sie es mit anderen Leuten teilen muss. Und überhaupt ist ihnen das zu eng“, meldet eine Kollegin vom Housing, bevor sie weiter Überzeugungsarbeit leistet, um die Familie doch noch zum Einziehen zu bewegen.

    Die sollen mal nicht so anspruchsvoll sein, schießt es mir kurz durch den Kopf, das ist immerhin eineindrittel Meter pro Person und nicht nur einer; und sie können als Familie zusammenbleiben. Und dann erschrecke ich über mich selbst. Bin ich schon soweit, einen Quadratmeter Wohnfläche für normal zu halten und alles, was darüber hinausgeht, für Luxus? So frustrierend es für uns ist, die wir trotz allen Anstrengungen meist nichts Besseres bieten können und endlose fruchtlose Diskussionen mit einzugsunwilligen Menschen führen müssen – ich will dankbar sein, so lange unsere POCs sich noch wehren gegen das, was in Moria Normalität ist. Viele resignieren viel zu schnell; das sollte uns mehr Sorgen machen... 

     

    An diesem Abend ziehe ich innerhalb meiner Wohnung um: Nach gut vier Monaten, in denen wir die Wohngemeinschaft, den Austausch und das fast tägliche Miteinander-Beten immer mehr genossen haben, ist meine britische Mitbewohnerin ausgezogen. Ich vermisse sie jetzt schon, möchte aber offen für das Neue sein: In Zukunft werden in meinem bisherigen Zimmer mit seinen zwei Betten Kurzzeit-Ehrenamtliche unterkommen. Mein neues Zimmer hat nur ein Bett, ist etwas kleiner und hat einen wunderschönen Blick nach Osten, auf das Meer und die Küste der Türkei, die von hier nur etwa 18 Kilometer entfernt ist. Als ich putze und umräume, messe ich aus reiner Neugierde meine neue Unterkunft aus – den großen Küchen- und Wohnbereich und das Bad ausgenommen. Ich wohne auf zwölf Quadratmetern. 

    Dienstag 26.2.2019

    Eine Blume im Frühling

    Sie heißt Soraya, kommt aus Afghanistan und ist 19 Jahre alt. Das kann ich den Papieren entnehmen, die mir ihr Mann schüchtern über die Theke unseres Info-Tischs schiebt. Dass sie schwanger ist, sehe ich auch ohne die Ultraschall-Bilder, die er dazu legt: Die zierliche junge Frau kann sich kaum auf den geschwollenen Beinen halten; sie sieht krank aus, schaut mit großen grünbraunen Augen unter ihrem Kopftuch hervor und hält mit einer Hand den Mantel über ihrem 8-Monats-Babybauch zusammen. Wir haben ihr offenbar keine Jacke geben können, die sie in ihrem Zustand noch richtig schließen kann. „Sie braucht doch einen Ort, an dem sie sich hinlegen kann“, bettelt ihr Mann. 

    Die beiden sind am Samstag vor drei Tagen angekommen, zusammen mit rund 260 anderen Flüchtlingen in insgesamt 4 Booten. Es war der gleiche Morgen mit Regen und Sturm, an dem auch ich, nach einigen Wochen Verpflichtungen in Deutschland, auf dem Seeweg zurück nach Lesbos gekommen bin – nur dass ich auf meiner Fähre ganz gemütlich im Warmen geschlafen habe. Wir haben all die Leute noch nicht im "echten" Camp unterbringen können, und viel zu viele haben seit ihrer Ankunft unter mehr oder weniger freiem Himmel im New Arrivals-Käfig aushalten müssen. Bei 40 der Neuen haben die Ärzte Krätze diagnostiziert und Quarantäne angeordnet. Quarantäne – das bedeutete in diesem Fall allerdings, dass der ganze Käfig mit seinen weit über 300 Leuten auf rund 250 Quadratmetern zugeschlossen wurde und die Menschen darin – die Gesunden wie die Betroffenen – nicht einmal ein bisschen im Camp herumlaufen und sich die Beine vertreten konnten. Andererseits: wo hätte man in Moria einen Platz finden können, um 40 Leute zu isolieren? Nach einem halben Tag merkte offenbar auch die Camp-Verwaltung, dass dieses Einsperren keine Dauerlösung war; seither mischen sich die Krätzepatienten und die anderen aus dem New-Arrivals-Bereich wieder unters restliche Volk. Unter all den Dingen, die einen in Moria heimsuchen können, ist Krätze vermutlich nicht das Schlimmste. 

    Wer ausgerechnet in den vergangenen Tagen angekommen ist, hat insgesamt eine schlechte Zeit erwischt: So überfüllt ist es normalerweise nur in den wärmeren Jahreszeiten, wenn Draußenschlafen weniger dramatisch ist. Die Sonne tagsüber und die ersten Anzeichen von Frühling machen uns Mut, dass der Winter bald vorbei ist. Aber nachts fällt das Thermometer immer noch auf 2 oder 3 Grad.

    Für Schwangere wie Soraya können wir wenig tun. Statt einer ganz dünnen Polyestermatte hat man ihr bei der Ankunft eine selbstaufblasende Isomatte ausgehändigt. Und weil wir gerade einige Oberbetten und warme Decken da hatten, hatte sie Glück: Sie hat so eine weitere Schicht gegen die Härte der Unterlage und die Kälte vom Boden her bekommen. Sie schläft trotzdem auf dem Beton- oder Lehmboden, wie die meisten. Irgendwann in den nächsten ein, zwei Tagen werden wir für Soraya und ihren Mann einen Platz im Camp finden. Bequemer wird der kaum sein, aber wenigstens irgendwo ankommen zu können ist für die Menschen, die ich heute an der Infotheke treffe, ein großes Anliegen. Es sind wieder Dutzende, die bei uns heute Hilfe oder Information suchen. 

     

    Da ist auch noch die Familie mit den fünf Kindern, die angeblich alle Asthma haben: „Wir haben ein Zelt direkt neben dem Toilettencontainer“, beschwert sich der Vater. „Und die Leute werfen alle ihren Müll neben unser Zelt. Gebt uns doch bitte eine andere Unterkunft! Das ist doch ungesund!“ Er legt die entsprechenden Atteste vor, die mir – und ihm vermutlich auch – nichts sagen, weil sie auf Griechisch verfasst sind. Ich befürchte, dass es ohnehin keine Unterkunft in Moria gibt, die halbwegs gesund ist. Ich bitte ihn, ab Freitag wiederzukommen; heute und auch in den nächsten Tagen werden die Kollegen alle Hände voll zu tun haben, um erstmal für die Neuen Plätze zu finden, die noch gar keine Unterkunft haben. 

     

    Dann sind da noch Nesrin – wieder eine Schwangere; sie ist Mitte Zwanzig und hat schon vier Kinder – und ihre Mutter Bahare; letztere vermutlich kaum älter als ich. Sie sind beide sehr schöne Frauen mit feinen Gesichtszügen und tiefdunklen Augen, an denen ich mich kaum sattsehen kann. Auch Nesrins drei Brüder und ihre Familien sind hier, insgesamt 18 Leute. Sie sind alle zusammen auf der Insel angekommen und möchten gerne zusammen untergebracht werden. Das wird kaum möglich sein, aber ich reiche ihre Papiere trotzdem zusammen bei den Kollegen vom „Housing“ ein – manchmal gibt es ja auch in Moria kleine Wunder. Ich finde es scheußlich, dass wir Familiengruppen wie die von Nesrin meistens auseinanderreißen und übers Camp verteilen müssen. 

    Es ist erstaunlich, wie gut man sich auch ohne gemeinsame Sprache verständigen kann, wenn man es versucht: Die Familienverhältnisse erklären Nesrin und Bahare unbekümmert auf Farsi, mit Gesten und Skizzen auf einem Blatt Papier; auch dass Bahares Mann, der Patriarch dieser Großfamilie, Soldat war und 2008 von den Taliban umgebracht wurde, lässt sich ohne gemeinsame Sprache vermitteln – die Geste des Halsabschneidens ist international genug. Als ich einen unserer Übersetzer dazuhole und Nesrin zu erklären versuche, dass wir vielleicht heute noch keinen Platz für sie finden und dass ich sie alle noch um Geduld bitten muss, bleibt sie erstaunlich gelassen. „Danke trotzdem für eure Mühe“, sagt sie. Im Weggehen wischt sich Bahare eine Träne aus den Augen; ihr Mann, als er noch lebte, und sie haben sich für ihre Kinder und Enkel sicher eine andere Zukunft gewünscht.

     

    Dann ist da noch Farhod, der nicht versteht, warum das mit der Unterbringung im Camp so lange dauert. Er ist ein gutaussehender, ungewöhnlich kräftiger Afghane um die Dreißig (endlich mal wieder jemand, an den wir eine Jacke Größe XL ausgeben konnten, denke ich mit Warenlager-Kennerblick) mit warmen schwarzen Augen und einem prächtigen Wuschelkopf. Er steht stundenlang an der Infotheke, drängt sich immer wieder nach vorne und redet lautstark auf Farsi auf meine Kollegin und mich ein, sobald wir zufällig in seine Richtung schauen – auch wenn kein Übersetzer dabei ist. Irgendwann gehe ich dazu über, ihm auf Deutsch zu antworten; wir verstehen uns ja ohnehin nicht! Und ich kann ihm nichts anderes sagen, als dass er weiter Geduld braucht. Wir können den Prozess nicht beschleunigen, und nein, wir diskriminieren ihn auch nicht, weil er Tadschike ist. (Woher sollen wir das überhaupt wissen? Ich kann einen afghanischen Paschtunen wirklich nicht von einem afghanischen Tadschiken oder Usbeken unterscheiden, und in ihren Papieren steht nur „Afghanistan“ – auf Griechisch.) Ich empfinde seine lautstarken Forderungen in einer Sprache, die mir fremd ist, so langsam als etwas bedrohlich und weiß nicht, wie lange ich in all dem Gedränge und Gewühle noch freundlich bleiben kann; er ist ja beileibe nicht der einzige Mensch, der hier heute unzufrieden ist! Erst als wir kurz nach vier den Info-Tisch schließen, lässt sich Farhod bewegen zu gehen. „Danke für eure Geduld“, sage ich zu ihm und einem seiner Kumpels, der ein bisschen Englisch spricht. „Moria ist ein schlimmer Ort und es tut mir leid, dass wir euch nicht besser helfen können.“ Und siehe da – Farhod lächelt, als er sich wortreich – und natürlich wieder in Farsi - verabschiedet. „Farhod ist sehr dankbar für deine Hilfe“, übersetzt sein Freund, „und du bist ganz wunderbar. Wie eine Blume im Frühling.“ 

    Das soll mal einer verstehen.

     

    Ich war mir nicht sicher, ob ich innerlich schon wieder fürs Camp bereit war, als ich nach meiner Pause wieder auf Lesbos aufschlug. Emotional war ich in den letzten Tagen zwischen Ich-schaff-das-noch-nicht und Wird-schon-irgendwie-gehen hin und hergerissen. Am Ende dieses langen Tages voller ermüdender Diskussionen und lautstarker Forderungen nach Dingen, die wir nicht geben und nicht leisten können, weiß ich paradoxerweise: Ich bin froh, wieder hier zu sein. Unter all den europäischen Bleichgesichtern zu Hause haben mir unsere Afghanen und Kurden, die Sierra Leoner und Kamerunis gefehlt. (Und ja, sogar die lautstarken afghanischen Tadschiken...) Ich hoffe, dass der nächste Dreimonatsabschnitt meines Einsatzes hier genügend ermutigende Erfahrungen bringt, dass ich ihn nicht nur irgendwie überstehe, sondern meine Fröhlichkeit wiederentdecke, die mir in den letzten Monaten ein bisschen abhanden gekommen ist. Der furchtbare, nasskalte Winter muss ja irgendwann ein Ende haben. Und wir werden alle aufatmen, wenn wir sie sehen: die ersten „echten“ Blumen im Frühling. 

    Donnerstag, 24.1.2019

    Müde

    Irgendwann erwischt es jeden. Wir witzeln schon immer, dass Moria wie eine große Kita ist, in der alle Krankheiten großzügig miteinander geteilt werden – nur dass unsere Keime aus aller Welt kommen, von Ghana bis Afghanistan. Irgendetwas habe nun also auch ich mir eingefangen. Die letzten fünf Tage habe ich schlapp und mit einem ermüdenden Husten weitgehend im Bett verbracht, von kurzen Abstechern ins Warenlager abgesehen, um meinen Helfern Anweisungen für den Tag zu geben. 

    Es wäre eigentlich nettes Wetter, um mit einer Wärmflasche auf dem Bauch gemütlich zu Hause zu bleiben: Seit über zwei Tagen schüttet es durchgehend wie aus Eimern, und mehrere Stürme und Gewitter lassen den Gedanken erst gar nicht aufkommen, freiwillig nach draußen zu gehen. Meine Fensterläden halte ich teilweise geschlossen, weil der Wind sie aus der Verankerung zu reißen droht, und durch unsere Balkontür dringt Wasser, obwohl sie fest geschlossen ist. Gelegentlich fällt der Strom aus.

    Aber wie gemütlich kann ich mich in meine Decken kuscheln, wenn nur knapp vier Kilometer von mir entfernt Menschen teilweise immer noch in Zelten auf weichem Waldboden hausen? Die Nässe kriecht von unten in ihre Unterkünfte; da helfen die Paletten wenig, die wir – immerhin! – unter alle Zelte schieben konnten; die ziehen sich ja ihrerseits voll mit Wasser! Und ich kenne die überforderte Kanalisation in Moria inzwischen; schon bei kleineren Regengüssen läuft das Abwasser in widerlich stinkenden Bächlein überall quer durchs Camp und bahnt sich zwischen Containern oder unter Zelten hindurch seinen Weg. 

    Also liege ich nun hier, mit meiner Wärmflasche und unter meinen warmen Decken, schaue in den Sturm hinaus, höre den Regen auf ein Blechdach in der Nachbarschaft prasseln und fühle mich elend um der Menschen willen, die von soviel Luxus im Moment nur träumen können. (Was ihnen natürlich auch nichts nützt!) Ich merke, dass ich müde bin – vom Kranksein mal ganz abgesehen. Ich schlafe hier schon seit Wochen nicht besonders gut, was nicht nur am lauten Wetter, sondern auch am Hund der Nachbarn liegt, der nicht sehr gut behandelt wird und gefühlt 20 Stunden täglich entweder kläfft oder erbarmungswürdig jault. Bei Lauter-als-Oropax-ausblenden-kann-Lautstärke ist das auf Dauer ziemlich zermürbend. Ich träume gelegentlich vom Camp und manchmal habe ich in diesen kuriosen Phasen zwischen Schlafen und Wachsein ganz plötzlich den typischen Camp-Moria-Geruch in der Nase, bis ich ganz wach werde und merke, dass das eine Riech-Illusion gewesen sein muss. Meine stinkenden Camp-Klamotten bewahre ich ja aus gutem Grund weit genug vom Bett entfernt auf, und mein Kissen riecht wirklich nicht nach Camp - zum Glück! Kurz gesagt: Ich schaffe es nicht mehr gut, Moria aus meinem „restlichen“ Leben auszublenden. 

     

    Morgen gehe ich wieder arbeiten. Und zum Glück mache ich einigen Tagen für gut drei Wochen Pause in einer Welt, in der ich mal wieder einfach Normalität genießen kann.  

    Mittwoch, 16.1.2019

    Ausnahms-Normalzustand

    Eigentlich wollte ich heute etwas verspätet von dem ganz gewöhnlichen Regentag ohne besondere Vorkommnisse berichten, den wir gestern hatten. Ja, genau - es hat wieder geregnet. (Es ist mir fast peinlich, hier so oft vom Wetter zu schreiben, aber es beeinflusst die Anzahl der Boote, das Leben in Moria und unsere Arbeit eben sehr stark!) Nach einigen schönen und mäßig warmen, nur von kurzen Schauern unterbrochenen Tagen war gestern wieder starker Dauerregen angesagt. Ich habe einige Stunden in einer Ansammlung von Matschpfützen gestanden und zusammen mit vier anderen Helfern drei 16-Quadratmeter-Zelte in ebendiesen Matschpfützen aufgebaut. Und ja, ich hatte nachher klamme Hände, nasse, eiskalte Füße und sah aus wie ein Wildschwein. Zufrieden war ich trotzdem, weil diese Zelte es möglich machen, dass 6 bis 8 Familien den Olivenhain („Dschungel“) mit seiner katastrophalen Infrastruktur hinter sich lassen und wenigstens im „echten“ Camp unterkommen können. (Wer mitgerechnet hat, hat vielleicht gestutzt, aber es ist kein Tippfehler: Auf jede Familie entfallen 6 bis 8 Quadratmeter. Eine Innenzeltwand trennt die Parteien nur sehr notdürftig voneinander.) 

    Heute ist es trocken und kalt. Vor dem Eingang zum Camp wechsele ich, wie fast jeden Morgen, ein paar Worte mit Antigoni von der Ein-Euro-Putzkolonne. Sie spricht sehr gut Englisch und wir haben uns vor einigen Wochen ein bisschen angefreundet, als ich irgendetwas auf dem Militärgelände abholen wollte und sie die einzige war, die mir Auskunft geben konnte. „Ich wohne schon seit 20 Jahren auf Lesbos, aber so eine dauerhafte eklige Kälte habe ich noch nicht erlebt“, meint sie. „Ich habe mir vor ein paar Wochen erstmal eine warme Jacke, einen Schal und eine Mütze kaufen müssen!“ Die Reinigungskolonne ist während der Woche den ganzen Tag über im fäkaliengetränkten, total vermüllten Camp unterwegs – ein knochenharter, undankbarer Job, bei dem Antigoni sich eine fette Erkältung zugezogen hat, die sie seit Wochen nicht los wird. 

     

    Nach dem kalten Tag gestern bin ich zugegebenermaßen froh, mich gleich nach der Morgenbesprechung mit meiner Warenlager-Helferin Erica in unsere Halle begeben und dort weiter arbeiten zu können. Zusammen mit vier Leuten einer anderen Hilfsorganisation, die extra von Amerika für einige Wochen zum Helfen hergekommen sind, sortieren wir den ganzen Tag über Schuhe und schaffen Platz für einige Paletten mit Hilfsgütern, die nächste Woche geliefert werden sollen. In den letzten Tagen sind 1632 Wärmflaschen und mehrere Tausend Windeln geliefert worden und es ist schon fast wieder zu voll geworden, um weitere Dinge unterzubringen. 

    Nach einem vergleichsweise gemütlichen Tag haben Erica und ich gerade das auswärtige Team verabschiedet und sind selbst im Begriff zu gehen, als der Fahrer von Ericas Team vorbeikommt. Normalerweise sammelt er seine Leute alle abends ein; sie essen dann gemeinsam: „Wir sind alle noch im Camp“, meldet er. „Es ist noch nicht ganz klar, wie lange wir heute gebraucht werden.“ Eines der großen Zelte, eine sogenannte „Rubb Hall“ mit 50 Bewohnern, ist bis aufs Gerüst abgebrannt. „Wir werden an alle Betroffenen eine Jacke und ein Päckchen mit Kleidern ausgeben, wie wir sie auch an Neuankömmlinge verteilen“, meldet die Kollegin, die für die NFIs verantwortlich ist. „Haben wir noch genügend im Warenlager, wenn wir die Vorräte im New Arrivals-Bereich aufbrauchen?“ Wir sind gut genug bestückt, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, selbst wenn heute Nacht gleich mehrere Boote ankommen sollten. Um erst gar keinen Engpass aufkommen zu lassen, machen wir einige Überstunden und wickeln weitere „Burritos“, wie wir diese Päckchen nennen. 

    Immerhin können wir etwas tun! Verschiedene Hilfsorganisationen arbeiten unkompliziert zusammen, um allen Betroffenen – auch einige Nachbarzelte sind angesengt – gleich zu bringen, was sie dringend benötigen. Schnell werden einige größere Zelte aufgerichtet. Die Bewohner des abgebrannten Zelts, alles alleinreisende Afrikaner, werden heute Nacht wohl keine Unterkunft mehr brauchen: Die Polizei, die im Camp ja immer präsent ist, hat sie alle fix eingesammelt, in einen Bus gepackt und in die Hauptstadt gebracht, um sie ausgiebig zu vernehmen. Der Verdacht auf Brandstiftung steht im Raum. 

    Wie gut und keineswegs selbstverständlich, atmen wir alle auf, dass niemand zu Schaden gekommen ist! Und wie schön, denke ich dann auch ein kleines bisschen stolz, dass „mein“ Warenlager in einem so arbeitsfähigen Zustand ist, dass wir mal eben so Kleidung für über 50 Leute in den richtigen Größen bereitstellen können. 

    Und dann wird mir bewusst, dass wir das ja ständig tun. Bei gut 40 Neuankömmlingen pro Tag (Jahresdurchschnitt 2018) ist es Tagesgeschäft, all diese "Burritos" und noch viel mehr vorzubereiten und bereit zu halten. Dass 50 Menschen in einem Brand ihr Zuhause verlieren, ist kaum absonderlicher, als dass 50 Menschen klatschnass und nach einer lebensgefährlichen Überfahrt aus einem Boot klettern, das für 20 oder 25 ausgelegt ist. Nur dass wir uns an Letzteres längst gewöhnt haben. 

     

    Meine Wahrnehmung dessen, was Normalität und was Ausnahme ist, scheint sich in Moria so langsam aber sicher zu verschieben. 

    Dienstag, 8.1.2019

    Kälte

    Es ist kalt geworden. In der großen Pfütze auf meinem Parkplatz, die mir immer als Wetteranzeiger gilt, schwammen heute morgen einige dünne Eisscherben. Der Wind pfeift über die Insel und beißt sich durch Fensterritzen, Reißverschlüsse und jeden Riss in Zelt oder Plane. Es ist trocken, aber bei Temperaturen um den Gefrierpunkt macht das die Lage in Moria kaum erträglicher. Gestern war die bisher kälteste Nacht in diesem Winter.

    Es ist gleichzeitig eingetreten, was vorauszusehen war: Die Elektrik hat der Belastung durch die vielen Heizgeräte – und dabei haben wir erst einen kleinen Teil ausgegeben; viele POCs haben sich selbst schon welche besorgt! – nicht standgehalten und ist zusammengebrochen. Um das System nicht auf Dauer zu überlasten, bedient das Camp-Management nun die verschiedenen Zonen des Camps nur stundenweise, so dass niemand durchgehend Strom hat. Viele, viele Menschen haben in der letzten Nacht vor Kälte nicht schlafen können; die Stimmung ist entsprechend gereizt. Nicht wenige Flüchtlinge schlurfen in Decken gewickelt durchs Camp. An manchen Ecken stehen Kinder und Erwachsene um kleine Feuer herum, die sie in Metalleimern angezündet haben; alte Paletten werden auseinandergehackt und bieten Brennstoff. Schon bei der Morgenbesprechung hören wir draußen vor unserem Bürocontainer die Leute rufen: Elektrik! Wir schlafen nicht! Uns ist kalt!

     

    Ich gehöre heute zu einem kleinen Team, das von unserem Warenlager einige Heizöfchen abholt, um sie im Camp zu verteilen. Wir kommen zunächst nicht weit: Im vorderen Bereich des Camps hat sich eine Gruppe von vielleicht hundert aufgebrachten Afrikanern versammelt, die uns nicht durchlassen möchte. Einer hält uns ein Pappschild entgegen: „African is diing!“ Eine Demonstration? Ist gerade in irgendeinem der Herkunftsländer unserer POCs etwas besonders Schlimmes passiert? Keiner von uns weiß irgendetwas, aber bei all den Krisengebieten, aus denen die Bewohner von Moria kommen, kann ja auch niemand wirklich den Überblick behalten!

    Die Stimmung wird immer aufgeladener; einzelne der Demonstranten beginnen uns zu beschimpfen und auf unseren Van einzuschubsen, so dass der Fahrer vorsichtig zurückzusetzen beginnt, bis einige Besonnene die Aufgebrachtesten beruhigen und uns eine Gasse freiräumen. Wir versuchen unsere paar Öfchen an Unterkünfte zu verteilen, bei denen wir wissen, dass sie noch keine Heizung haben, und werden dabei regelrecht belagert. Mütter strecken uns ihre in Decken gepackten Babys entgegen, von denen wir nur die verrotzte Nasenspitze erkennen können: „Baby kalt! Baby krank!“, Väter deuten auf ihre schwangeren Frauen und erzählen von ihren Kindern, die die Nacht über wachgelegen haben. „Bitte! Es ist so kalt!“ Ich möchte ihnen am liebsten einfach allen ein Heizöfchen in die Hand drücken, aber damit würden wir niemandem einen Gefallen tun. Mir ist zum Heulen zumute.

    In manchen Zelten treffen wir niemanden an und können entsprechend auch kein Öfchen abgeben - ironischerweise sind diese Zelte gerade deswegen leer, weil ihre Bewohner letzte Nacht vor der Kälte zu Verwandten und Freunden geflüchtet sind, bei denen es wärmer war. 

    In einem Campbereich, in dem viele Afrikaner wohnen, erfahren wir auch, warum die Stimmung hier besonders aggressiv ist: „Einer von unseren Freunden ist tot!“, erklärt mir Huguette aus Kamerun. Ich komme vor ihrer Unterkunft mit ihr ins Gespräch, während mein Kollege irgendeine Formalität wegen ihres Heizöfchens erledigt. „Wir sind aus der gleichen Volksgruppe, und wir kannten ihn alle.“ „Was war denn? War er krank?“, erkundige ich mich. „Es war die Kälte!“, behaupten Huguettes Landsleute, die zu uns stoßen, „er ist erfroren!“ Und sie beginnen gestenreich miteinander und mit mir zu diskutieren, bis mein Schulfranzösisch passen muss. 

    Der 24Jährige ist in der Nacht – soweit die Fakten – von seinen Mitbewohnern leblos aufgefunden worden. Er konnte von den im Camp zufällig anwesenden Ärzten nicht wiederbelebt werden. Der Leichnam ist nun nach Mytilene gebracht worden, wo er noch heute obduziert werden soll.

     

    Es war übrigens ein Christ, der gestorben ist. Das erfahren wir später bei unserem wöchentlichen Teamabend. Einige kamerunische Frauen haben unserem griechischen Campverantwortlichen heute Nachmittag erzählt, wie viel Mut er ihnen immer gemacht hat, trotz aller Schwierigkeiten an ihrem Glauben festzuhalten. „Ich bin nicht nach Europa gekommen, um eine gute Arbeit zu finden“, hat er für sich beschlossen, „sondern um Menschen von Jesus zu erzählen!“ Nun ist er tot und im Camp ist die Stimmung weiter so eskaliert, dass die Spätschicht kurzfristig evakuiert werden musste. Wir beten, dass es wieder wärmer wird und dass die Elektriker, die das Problem in den Griff zu bekommen versuchen, Erfolg haben.

    Ich kann das alles nicht so recht für mich einordnen. Aber an diesem Abend weine ich mir die Schwere dieses kalten Tages von der Seele.

    Dienstag, 1.1.2019

    Camptag

    Ach ja, es hat ja ein neues Jahr begonnen! So richtig mitbekommen haben es die meisten von uns Helfern nicht, weil wir heute normale Schichten schieben und entsprechend früh ins Bett gegangen und aufgestanden sind. Ich hatte vor Weihnachten drei Tage frei und fühle mich davon noch recht erholt. Durch die ganzen Feiertage hindurch sind vergleichsweise viele Boote angekommen und wir sind entsprechend gut beschäftigt gewesen; vielleicht hat die türkische Küstenwache ja auch gefeiert und war deswegen weniger aufmerksam, so dass mehr Boote es in europäische Gewässer geschafft haben? Auf der Insel war feuerwerkstechnisch alles ganz ruhig; dass es keine zischenden Feuerwerksraketen und keine Böller gab, ist vermutlich auch ganz gut angesichts unserer vielen Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. 

     

    Wenn dieses Jahr so wird wie sein heutiger erster Tag, wird es sehr durchwachsen. Anstrengend war vor allem wieder der Regen. Der Großteil meiner Arbeit heute spielt sich bei etwa 8 Grad im strömenden Regen ab; man erkennt uns Helfer alle schon von Weitem an unseren knallgelben Regenanzügen unter den orangenen Westen unserer Hilfsorganisation. Aber will ich mich wirklich über das Wetter beschweren? Als ich am Morgen helfe, für die Neuangekommenen der letzten Tage das Frühstück auszugeben, sehe ich aus den Augenwinkeln eine vier- oder fünfköpfige Familie, die innerhalb unseres New Arrivals-Bereichs offenbar im Freien übernachtet hat: Nur vom Drahtzaun vor dem Wind und von einer rissigen Plane in zweieinhalb Metern Höhe vor dem Regen „geschützt“, sind sie alle nach der letzten Regennacht samt ihren Sachen völlig durchnässt. Es hat für sie keinen Platz mehr in dem riesigen, aber völlig überfüllten New Arrivals Zelt gegeben. Und weil die Behörde im Camp, die unseren Neuankömmlingen die ersten Papiere ausstellt, an den Feiertagen frei hatte, konnten wir ihnen auch keine Unterkunft im „normalen“ Camp anbieten. Sie sitzen da nun einfach auf zwei dünnen Plastikmatten und warten, dass irgendetwas passiert.

     

    Es ist gut, heute wieder im Camp und unter den Leuten zu sein. Manche unserer Tätigkeiten hier sind so skurril und manche Begegnungen so besonders, dass man sie nicht missen möchte. Am Nachmittag begleite ich zum Beispiel mit einer Rolle Silberband und einer Klempnerzange einen jungen Afghanen zu seinem Zelt: er will ein Elektrokabel reparieren, das gestern Abend kaputtgegangen ist. Alle zapfen selbst ihren Strom von den Leitungen ab, die durchs Camp gespannt sind; man kann schon dankbar sein, wenn ihre Kabel nur kaputtgehen und nicht irgendetwas in Brand setzen... „Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen, weil es ohne unser Heizöfchen zu kalt im Zelt war“, hat Farid erklärt. Mit ihm mitgeschickt wurde ich, damit nicht die ganze kostbare Rolle Silberband aufgebraucht wird oder die Zange „verlorengeht“. Und dann sitze ich ein halbes Stündchen im Eingang des UN-Zeltes, das er sich mit einigen Landsleuten teilt, und plausche mit drei Afghanen, während sie mit ihrem Messer und meiner unpassenden Klempnerzange ihr illegales Kabel reparieren und mich anschließend auf einen Chai einladen; schließlich funktioniert ihr Wasserkocher ja jetzt wieder, sofern sie nicht gleichzeitig das Heizöfchen anschalten. „Wie findest du denn Adolf Hitler?“, fragt mich Farid, der recht gut Englisch spricht, unvermittelt. Als offene Frage hat das mir gegenüber noch niemand formuliert. „Er war ein sehr schlimmer Mensch“, sage ich. „Achso! Warum denn?“ Das kann ja heiter werden. „Er hat gesagt, dass manche Menschen besser sind als andere und dass man die anderen deswegen umbringen kann. Und er hat einen Krieg angefangen, bei dem viele Millionen Menschen umgekommen sind.“ „Aber im Krieg muss man doch andere töten! Wenn du den anderen nicht umbringst, bist du selber tot!“ Ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch führen. Ich schlage vor, dass es insgesamt besser ist, wenn keiner irgendeinen Krieg anfängt. Dem stimmt Farid gerne zu. Er hat in seinen 23 Jahren wenig anderes kennengelernt als Krieg und Verrat. Jetzt hat er je eine Kugel im Bein, im Bauch und im Kopf. Seine junge Frau, von der er mir Bilder zeigt, wartet Tausende Kilometer entfernt darauf, dass er irgendwann, irgendwo, irgendwie in der Sicherheit Europas ankommt und sie nachholen kann. Und er sitzt hier in Moria fest. 

     

    Ich bin froh, dass seine Kumpels und er es heute Nacht wieder warm genug haben werden zum Schlafen. Und dass wir am Nachmittag auch die Familie vom New Arrivals-Zaun im Trockenen unterbringen können. Es ist ein anstrengender Tag gewesen, denke ich, als ich müde den Rest Silberband und die Zange in unseren Werkzeugcontainer zurück bringe, aber ich habe einige nette Leute kennengelernt und ihr Leben hier ein bisschen leichter gemacht. Wenn der Rest des Jahres auch so wird, ist das doch gar nicht schlecht.

    Montag, 24.12.2018

    Anstelle eines Weihnachtsgedichts

     

    Sie dachten, er würde in einem Palast geboren werden.

    Aber er kam in einem Stall zur Welt.

    Der König kam als Diener.

     

    Sie dachten, er würde sie aus der Gewalt der Besatzer befreien.

    Aber von denen ließ er sich zu Tode foltern.

    Sein Reich ist nicht von dieser Welt.

     

    Sie dachten, er würde ihnen ihre Leiden nehmen.

    Aber er erinnerte sie an seine Gnade.

    Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

     

    Der Löwe lässt sich als Lamm schlachten.

    Der Schatz wohnt in zerbrechlichen Gefäßen.

     

    Wir dachten, wir könnten seine Liebe sichtbar machen

    in dem, was wir bringen: 

    Gaben, Licht und Wärme.

    Aber durch verwinkelte, schmutzige, verstopfte Leitungen 

    dringt wenig von dem, 

    was wir weiterzugeben hofften,

    durch

    in ein Fass ohne Boden.

     

    Seine Wege sind nicht unsere Wege.

    Und er wird doch zu seinem Ziel kommen.

    Mittwoch, 19.12.2018

    Weihnachtsgeschenke

    Was für eine Woche! Einige volle, aber gute Tage liegen hinter mir. Vorgestern ist, wie erwartet, wieder ein LKW aus Holland angekommen: die halbe Ladefläche, neun Paletten, waren buchstäblich Geschenke: 2500 liebevoll einzeln gepackte und mit Geschenkpapier umgebene Schuhkartons für alle Kinder von 2 bis 14. (Die Aktion heißt in Deutschland „Weihnachten im Schuhkarton“; in Holland läuft sie als Actie4kids über GAiN.) Wir konnten sie gleich in der Halle ausladen, in der sie heute auch verteilt wurden. Die liegt nur einen halben Kilometer vom Camp entfernt und gehört zu einer anderen Hilfsorganisation: Gateways to Life bietet während der Woche Duschen und Waschmaschinen für die Frauen aus dem Lager an. Weil es dabei immer Wartezeiten gibt, ist die Halle mit Tischen, Stühlen und Spielmöglichkeiten ausgestattet; es sind Mitarbeiter zum Gespräch da, und rund um die Uhr laufen auch Englischkurse. Eine wertvolle Arbeit, die den Frauen und kleinen Kindern eine kleine Auszeit vom Camp und wenigstens ein bisschen Würde verschafft. Im Camp zu duschen, scheint eine ziemliche Zumutung zu sein...

    Als der LKW seine Ladefläche öffnet, bekomme ich nach der ersten Freude über all die schönen Kisten erstmal einen Schrecken: Er hat nur eine normale Rückwand, keine Ladebordwand, die sich heben und senken lässt! Wir brauchen einen Gabelstapler! Anna aus dem Büro hat uns auch tatsächlich einen bestellt (und er ist sogar, anders als beim letzten Mal, gekommen!) – aber eben erst zu unserer zweiten Ausladestelle, unserem Warenlager, wo wir heute noch einige Kisten stapeln müssen, bevor wir die neuen Güter unterbringen können.

    Wie findet man denn in einem fremden Land auf die Schnelle einen Gabelstapler? Es stellt sich heraus, dass sich unter der Halle, in die wir unsere ersten Paletten stellen möchten, ein Getränkelager befindet. Ich marschiere also auf gut Glück in das kleine Glashäuschen, das dort als Büro fungiert, und frage mich zum Chef durch: Können wir seinen Stapler vielleicht ausleihen? Sein Englisch ist nicht sehr gut, so dass ich meine Anfrage durch entsprechende Gabelstapler-Gesten untermale, was vermutlich lustig aussieht. Ein paar lässige Handbewegungen und Rufe durch die Halle später darf ich den Stapler samt Fahrer gleich mit nach oben nehmen. Eine gute Stunde lang hilft uns dieser Engel im Overall Paletten und Kisten herumzufahren. Auch das ist Griechenland! (Ich stelle mir vor, wie lange ich in einer ähnlichen Situation in Deutschland diskutiert und gebettelt hätte. Die Versicherung! Der Verdienstausfall!) Als ich Elpida, die Verantwortliche von Gateways to life, frage, wie wir uns revanchieren können und was da so in ihrem Land angebracht wäre, winkt sie ab: Ein Danke ist ausreichend. Wow! Das ist ja schon Weihnachten für müde Warenlager-Chefinnen!

    Seit einigen Tagen ist ein vierköpfiges GAiN-Team aus Holland da, das im Lager schon fleißig Gutscheine für die Verteilung an die Familien verteilt, sozusagen die Verteilung vor der Verteilung. Wir haben darauf vermerkt, wie viele Kinder in einer Familie sind und welches Alter sie haben, damit die Verteilung heute zügig funktioniert und die Leute nicht endlos in der Kälte stehen müssen.

     

    Und so feiern wir heute alle die Weihnachtsgeschenkeverteilung für die Kinder aus Camp Moria! Es herrscht, wie bei Hilfsgüter-Verteilungen üblich, ein bisschen Gedrängel und Durcheinander, aber es ist insgesamt ein fröhliches Durcheinander, und die Kinder mit ihren Eltern dann strahlend von zum Camp zurück ziehen zu sehen, ist eine Belohnung für sich. Ich glaube, wir Helfer grinsen die meiste Zeit von einem Ohr zum anderen. Es ist einfach zu schön, die Kinder in die Halle mit all den Geschenken kommen zu sehen und ihnen dann zu zeigen, dass in all den Stapeln ein Geschenk ganz für sie persönlich ist. Wir haben auf die Schnelle die Musikanlage nicht richtig einstellen können, so dass wir manche Weihnachtslieder in der Dauerschleife hören. Aber das fällt kaum auf, weil wir im Kindergewusel alle Hände voll zu tun haben.

    Am späten Mittag haben wir an alle 1500 Kinder Schukartons und an ihre kleineren Geschwister Kuscheltiere verschenkt, insgesamt über 2000 Leute durch die Halle geschleust und eine Horde von gelangweilten Teenagern stundenlang davon abgehalten, sich immer wieder an unseren Türhütern vorbeizuschmuggeln und Geschenke zu stibitzen. 

    Wir verstauen die übrigen knapp 1000 Geschenke (sie werden im Lauf der nächsten Wochen noch anderweitig verteilt) und versetzen die Halle wieder in einen passablen Zustand. Für die Holländerinnen, die monatelang für die Aktion geworben, Päckchen gesammelt und jedes einzelne nachkontrolliert haben, war es ein überwältigend froher Tag. Bei mir, die ich für den Ablauf heute verantwortlich war, überwiegt die Erleichterung, dass es so gut geklappt hat. Jetzt kann auch für mich Weihnachten kommen!

    Freitag, 14.12.2018

    Danke, Moria!

    „Moria war der wichtigste Ort in meinem Leben!“ Heute haben wir bei der Morgenbesprechung kurz Ahmad verabschiedet, einen unserer Helfer der letzten Wochen. Ahmad ist Palästinenser. In einem syrischen Flüchtlingslager geboren, hat er die ersten 22 Jahre seines Lebens in Lagern verbracht und sich vor drei Jahren über den Libanon, die Türkei und Griechenland nach Deutschland durchgeschlagen. (Es hat ihn 16.000 Dollar gekostet, und die Geschichte seiner Reise ist so abenteuerlich wie die meisten hier.) Wir reden meist Deutsch miteinander. Er hat eine Arbeitsstelle im Münsterland und spart mit Hingabe, damit er im Urlaub als Ehrenamtlicher nach Lesbos kommen und hier mithelfen kann. 2016 war er noch selbst Flüchtling im Camp Moria: „Es war der wichtigste Ort meines Lebens“, sagt er. „Ich habe die Menschen von EuroRelief kennengelernt. Sie waren freundlich zu mir und haben mir Englisch beigebracht. Und durch sie habe ich auf Lesbos Jesus kennengelernt. Das hat mein Leben verändert.“ Aus einem wütenden Namenlosen ohne Perspektive ist ein Mensch geworden, der sich unter beträchtlichen Opfern für andere einsetzt. Ahmad wird weiter arbeiten und weiter sparen und hofft, im nächsten Jahr für einen längeren Einsatz herkommen zu können.

    Seine Worte haben mir die Tränen in die Augen getrieben. Wir sind alle erschöpft nach den letzten Tagen, in denen unsere Helferschar sich noch weiter dezimiert hat. Mehrere erfahrene Langzeitler sind auf Schulungen oder im dringend benötigten Urlaub, und ihre Vertreter nehmen sich beherzt all der Notfälle an, die sich in den letzten Tagen ergeben haben. So viele Dinge laufen nicht, wie man es sich wünschen würde, und manchmal scheinen sich das Wetter, Hilfsgüter-Lieferanten, die griechischen Behörden und die Schleuser regelrecht abgesprochen zu haben, um das Leben im Camp und unseren Dienst unmöglich zu machen. Wenn ich Ahmad höre, weiß ich wieder, warum ich hier bin. Und wenn ich im Lauf des Tages in meiner frustrierten Hilflosigkeit so manches Stoßgebet zum Himmel schicke, weiß ich, dass ich genug Kraft für das alles haben werde. Zumindest für diesen einen Tag. 

     

    Bestandsaufnahme heute (Auswahl):

    New Arrivals: In den letzten Tagen sind wieder fünf Boote und rund 220 neue Leute angekommen. Manche sind von der Überfahrt noch ganz nass, als sie in unserem New Arrivals-Bereich eine Rettungsdecke und einen heißen Tee bekommen, später auch ein Set neue Kleider und Hygieneartikel. Wir können nicht an alle Neuankömmlinge Mützen, Schals und Handschuhe ausgeben, weil wir mangels Helfern all die Kisten und Tüten aus dem letzten LKW noch nicht auspacken und sortieren konnten. Es sind Kleinigkeiten, die mir heute ein bisschen Heiterkeit verschaffen: Im letzten Boot waren viele kräftige Afrikaner. Nachdem wir in den letzten Wochen an eher feingliedrige Afghanen lauter Jacken in kleinen Größen abgegeben haben, werde ich heute endlich einige Säcke mit XXL-Größen los. 

    Transport: Heute wurde die Anordnung gegeben, dass Fahrzeuge im Lager von einem Menschen begleitet werden müssen, der ihnen vorausläuft. (Nein, ich weiß auch nicht, wofür das gut sein soll.) Alle Stunde, wenn unser Fahrer also etwas ins Camp bringt oder etwas abholt, muss einer unserer wenigen Helfer seine Arbeit für eine Viertelstunde unterbrechen, um vor unserem Auto her im Lager herumzulaufen. Außerdem ist unser Fahrer, der manchmal stundenweise in der Warenhalle wenigstens die schwersten Kisten mit mir gemeinsam bewegt, seit vorgestern immer wieder für die Abholung von weiteren Hilfsgütern abgezogen worden. Die sieben Paletten Schlafsäcke, die er nach und nach in unserem viel zu kleinen Van herangeschafft hat, nehmen nun den Platz in einem Container ein, in den ich eigentlich einige Sachen auslagern wollte: Am Montag wird ein weiterer LKW kommen, und wenn wir bis dahin nicht rund 80 Kubikmeter Güter nur mit Hilfe einer Ameise und Muskelkraft bewegen, werden wir die neue Lieferung nicht unterbringen können. Seit gestern ist der Van in der Werkstatt, so dass wir nur noch einen großen PKW zur Verfügung haben. Am frühen Nachmittag bleibt auch der mit einem Schaden liegen; der Fahrer kann nicht zum Helfen zurückkommen. Und auch nichts mehr hin- und herfahren.

    Housing: Heute sollen wieder rund 240 Menschen aufs Festland verlegt werden: Sie packen ihre Sachen und ziehen voller Hoffnung aus ihren Zelten und Containern aus. Wir quartieren sofort neue Leute in den frei werdenden Unterkünften ein. Am Nachmittag, als alle auf die Busse zur Fähre warten, kommt die Auskunft: Die Fähre kommt heute nicht! Die Leute müssen doch noch einmal im Camp übernachten, aber ihre Quartiere sind belegt.

    Hilfsgüter: Eigentlich sollten diese Woche kleine Heizöfchen an die POCs ausgegeben werden. Sie konnten bisher nicht geliefert werden und die ersten hundert kommen ausgerechnet heute an, als ich in der Warenhalle eh schon ächze. Wo soll ich die ganzen Sachen denn hinstellen?! Irgendjemandem fiel auch erst heute auf, dass die Elektrik im Camp es gar nicht mögen wird, wenn 650 Heizöfchen gleichzeitig laufen sollen – wir sind hier schließlich in Griechenland, und selbst in meiner eigentlich modernen Wohnung springt die Sicherung drei-, viermal am Tag heraus, wenn ich beispielsweise ein Stück Brot in den Toaster stecke, während das Deckenlicht angeschaltet ist. Die Öfchen werden also in meiner Lagerhalle zwischengelagert, bis... ja... bis was denn eigentlich passiert? Wie soll die schwachbrüstige Elektrik plötzlich funktionieren? Und warum hat daran niemand schon im Juli gedacht?

    Wir hangeln uns von Notfall zu Notfall und improvisieren, bis wir nicht mehr klar denken können. 

     

    Aber auch das ist der heutige Tag: 

    • Einzelne Mitarbeiter, die eigentlich frei haben, kommen stundenweise und helfen mir Kisten schleppen. Ein Kollege aus der Verwaltung entdeckt seine Begeisterung für unsere Ameise und schichtet Dutzende Paletten um. Am Abend ist ein großer Teil unserer Halle leer und ich kann es kaum glauben: Wir haben Raum für die Lieferung am Montag!
    • Seit Tagen habe ich ein blödes Kratzen im Hals und bräuchte ein bisschen Vitamin C; ich habe aber einfach keine Zeit zum Einkaufen gehabt. Am Nachmittag bringt mir mein Nachbar, der immer hilfreiche Autowerkstattbesitzer, eine große Tüte Orangen aus seinem Garten vorbei. Er redet fröhlich auf Griechisch auf mich ein und ich antworte genauso fröhlich auf Deutsch, das er eh genauso gut oder schlecht versteht wie Englisch. 
    • Alle obdachlos gewordenen POCs kommen für die Nacht unter: Sie organisieren sich selbst und finden wenigstens für diese kurze Zeit in der Enge Quartiere bei Freunden und Verwandten. Selbstverständlich ist das nicht. 
    • Die Lage bleibt ruhig, obwohl es einen Vorfall gab (über den ich hier nicht berichten kann), der Volksgruppen leicht gegeneinander hätte aufbringen können. Es gibt keinen Kampf im Camp. Es gibt keinen Unfall. Alle Helfer überstehen den Tag unverletzt und mit fröhlicher Dienstbereitschaft bis in die späten Abendstunden hinein. Ich bin insgesamt gesund. 

    Ich habe bei all meinen Einsätzen in Deutschland und im Ausland noch nie so stark wie hier in Moria erlebt, dass ich Dinge so gar nicht in der Hand habe und Gottes Hilfe für die kleinsten Kleinigkeiten brauche. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, die gleichzeitig anstrengend und überwältigend ist, und die mich vermutlich für den Rest meines Lebens prägen wird. Vielleicht sage ich ja irgendwann auch einmal wie Ahmad: Danke, Moria.

    Mittwoch, 5.12.2018

    Achthundertundsiebzig

    870 Menschen. So viele sollen morgen und übermorgen aufs Festland verlegt werden. Dass ein Zehntel der Leute das Camp verlassen, wird die Wohnsituation deutlich entspannen, bedeutet aber für die nächsten Tage viel, viel Extra-Arbeit: alle Alleinreisenden und Familien, die zum Transfer vorgesehen sind, bekommen von uns einen Zettel zum Container oder Zelt gebracht, und wenn sie ausziehen, belegen wir gute Unterkünfte mit den Leuten aus dem Olivenhain beziehungsweise aus Sommerzelten. (Soweit die Theorie...) Dass nicht alle Zelte da stehen, wo wir sie in unseren Karten vermerkt haben, und nicht alle Flüchtlinge in den Unterkünften wohnen, in denen wir sie registriert haben, hatte ich ja schon erwähnt (Eintrag vom 3.11.). Ein Teil unserer Helferschar, die inzwischen auf 11 geschrumpft ist, läuft also den halben Tag suchend im Camp herum, ein anderer Teil verteilt ebenfalls Zettel mit Terminen: Seit heute hat KEELPNO wieder geöffnet! Die dem griechischen Gesundheitsministerium unterstellte Organisation ist für die Erstuntersuchung aller ankommenden Flüchtlinge verantwortlich. Es gibt zwar auch einige medizinische NGOs wie die Boat Refugee Foundation oder, außerhalb des Camps, Ärzte ohne Grenzen, aber sie dürfen nicht die offiziellen Gutachten erstellen, die jeder POC braucht. Diese Gutachten sind für den Asylantrag nötig, und sie können eine Person beispielsweise auch als besonders schützenswert ausweisen. 

    Seit einigen Wochen haben die Ärzte bei KEELPNO gestreikt. Das hat dazu geführt, dass die Leute mit ihren Asylanträgen nicht weiterkamen, und unter anderem auch dazu, dass wir alleinreisende Frauen nicht im für sie vorgesehenen, besonders bewachten Bereich innerhalb des Camps unterbringen konnten. Jede Single-Frau hier ist besonders verletzlich und im „normalen“ Campbereich letztlich Freiwild, und jede bekommt das entsprechende Gutachten – aber eben nur, wenn die Ärzte dort sind, um das entsprechende Papier auszustellen. Seit heute werden nun wieder Termine vergeben, und nach wochenlangem Warten sehen viele in den nächsten Tagen zum ersten Mal seit ihrer Ankunft einen Arzt. 

     

    870 Menschen. So viele kommen – zumindest fühlt es sich so an – auch zu unserem Info-Point, für den ich heute einige Stunden eingeteilt bin. Die Lagerhalle kann warten, wenn wir so deutlich unterbesetzt sind, und einen Tag pro Woche möchte ich ohnehin im „echten“ Camp sein. Dort habe ich keine besondere Verantwortung, sondern lasse mich wie die Kurzzeit-Helfer an der Basis einsetzen, wo gerade jemand gebraucht wird. „Bin ich mit auf der Liste für Athen?“ (Das bekommst du mit, wenn wir dir dein Ticket bringen.) „Warum habe ich noch keinen Arzt-Termin?“ (Das weiß ich nicht, wir vergeben die Termine nicht, sondern geben nur die Info weiter.) „Kann ich eine Säge ausleihen?“ (Du hast Glück, wir haben gerade eine da.) „Wir waren in unserem Zelt nur zu viert – jetzt hat man uns noch drei Leute dazu gelegt. Das ist zu wenig Platz! Wir wollen umziehen!“ (Das Zelt ist für 8 Personen ausgelegt und dass ihr nur zu viert wart, war die Ausnahme, nicht der Normalfall. Ja, ich finde auch, dass 16 Quadratmeter für sieben oder acht Personen zu wenig sind, aber wir haben keinen besseren Platz für deine Familie. Es tut mir leid!) „Ich hatte einen Arzttermin für heute und habe den ganzen Tag in der Schlange gestanden. Kurz bevor ich dran kam, wurde die Ambulanz geschlossen und wir wurden nach Hause geschickt. Wie komme ich nun an einen neuen Termin?“ (Ich weiß es nicht! Es tut mir leid, das muss sehr ärgerlich gewesen sein!) „Ich habe zwei Termine für die Verlegung bekommen – einen von der UN für morgen nach Thessaloniki und einen von euch für übermorgen nach Athen – welcher gilt denn nun?“ (Ich habe keine Ahnung. Versuch es doch einfach mit dem Transfer nach Thessaloniki, und wenn das nicht klappt, gehst du eben nach Athen!) Spiele ich gerade Schicksal? Aber was soll man tun, wenn es offenbar keine Absprachen zwischen den UN-Behörden und den Griechen gibt?

     

    870 Menschen. Heute kommen sie mir wieder einmal ganz buchstäblich sehr nahe mit ihren Fragen und Wünschen, mit ihrem Ärger, mit ihrer Hilflosigkeit. Und mit ihrem unverwechselbaren Camp-Moria-Müffel-Geruch, den auch wir Helfer bestimmt alle früher oder später annehmen. Mit ihren ausladenden Gesten und ihrem manchmal kuriosen Englisch. Ich scheine immer gleichzeitig mit vier Leuten zu diskutieren und kann doch immer wieder einmal einen Schritt zurücktreten, um einfach ihre Gesichter zu betrachten, während ein Übersetzer seine Arbeit tut. Es sind oft vom Leben, von Armut, Ungerechtigkeit und Krieg gezeichnete Gesichter, trotz allem schöne Gesichter, gelegentlich geschminkte, manchmal verknitterte, ängstliche, neugierige oder bittere Gesichter. Und ich merke, dass ich diese Leute liebzuhaben beginne. Jeder einzelne ist in Gottes Bild geschaffen, und in ihrer Vielfalt aus so vielen Völkern – im Moment sind rund 60 Volksgruppen im Camp vertreten – bilden sie so viel von Gottes Weite und Kreativität ab, dass ich staune und wohl nicht nur innerlich lächele. Auch wenn ich ihnen hier und heute nicht allen weiterhelfen kann: Ich hoffe, dass ich sie zumindest etwas von der Würde spüren lasse, die ihnen zusteht.

    Samstag, 1.12.2018

    Advent

    Es war nur ein Espresso und ein bisschen Small Talk mit dem Inhaber meiner Autovermietung. Als ich vorgestern mit meinem frisch erworbenen Miet-Nissan die paar Kilometer von der Hauptstadt an der Küste entlang zu meinem Dörfchen zuckelte und mich merkwürdig beschwingt fühlte, wurde mir bewusst: Das war seit vier Wochen die erste Begegnung mit einem Menschen, der nichts mit Flüchtlingen und Camp Moria zu tun hat! Durch die Wohn- und Fahrgemeinschaften von uns Helfern und durch die langen Schichten, nach denen man ohne Auto auch nirgendwo mehr hinkommt, bin ich in der Camp-Moria-Blase gefangen gewesen und habe kaum noch gemerkt, dass es "da draußen" noch ein anderes Leben gibt. Ich habe kaum noch im Internet Zeitung gelesen oder auf Social Media geschaut, was die Freunde zu Hause so treiben – einerseits, weil ich durch die ungewohnte körperliche Betätigung und die vielen neuen Eindrücke oft viel zu platt war, andererseits aber auch, weil es alles sehr, sehr weit weg schien. Habt ihr keine echten Probleme?, möchte ich die Freunde auf Facebook manchmal anblaffen, könnt ihr euch mal weniger banale Witzchen ausdenken oder euch ein bisschen weniger um euch selbst drehen? Es fällt mir zunehmend schwer, bei manchen politischen oder gesellschaftlichen Themen in Deutschland innerlich mitzugehen, wenn das Elend der Menschen hier mit Händen zu greifen ist. Gesund ist das nicht – ich brauche keinen Psychologen, der mir das bestätigt. 

    Die letzten paar Tage, in denen ich endlich selbst mobil war und aus der Camp-Blase ausbrechen konnte, haben mir gut getan. Heute bin ich auf der mehrstündigen (vergeblichen) Suche nach einem Toaster in so wunderschönen Ecken „meiner“ Insel gelandet, dass meine Seele einfach mal wieder aufgeatmet hat. Dass ich mich mehrmals verfahren habe – was hat’s mich gekümmert, wenn hinter der nächsten Biegung ein Blick auf eine Bucht oder aufs Gebirge wartete. Lesbos ist einfach schön; man möchte hier glatt Urlaub machen...

     

    Es ist in den letzten Tagen trocken geblieben. Wir würden etwas aufatmen können, wenn die ruhige See uns nicht gleichzeitig wieder mehrere Boote mit Flüchtlingen beschert hätte, die versorgt und untergebracht werden wollen. Vermutlich wollten sie noch schnell übersetzen, bevor weitere Winterstürme die Überfahrt auf Wochen und Monate deutlich gefährlicher machen. Zusätzlich ist unsere kleine Helferschar weiter dezimiert: Einer unserer handwerklich begabten jungen Männer ist vor drei Tagen an seinem einzigen freien Tag in eine der heißen Quellen gestürzt, die nicht weit von hier ohne besondere Sicherungsvorkehrungen frei zugänglich sind, und mit schwer verbrannten Beinen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er wird dort wohl die nächsten Wochen verbringen. Weil die medizinische Versorgung hier nicht so recht vertrauenserweckend ist, soll den ganzen Tag über jemand bei ihm sein – meistens meine britische Mitbewohnerin, die Griechisch spricht, in einem früheren Leben als Krankenschwester gearbeitet hat und dem Pflegepersonal etwas auf die Finger schauen kann. Es nimmt uns alle mit, dass einer von uns so zu leiden hat. Es wäre so schön, wenn wenigstens außerhalb des Camps alles schön und heil wäre...

     

    Heute ist – auch daran erinnern die facebook-Einträge der Freunde zu Hause – der erste Tag der Adventszeit. Hier auf Lesbos gibt es keinen Weihnachtsmarkt, keine Plätzchen, kein Weihnachtslieder-Gedudel, auch keine langen Öffnungszeiten (jetzt, außerhalb der Saison, schließen viele Läden um 14 Uhr und öffnen nach der Siesta auch nicht wieder!) und entsprechend auch keinen vorweihnachtlichen Shopping-Wahn. Dass das alles fehlt, macht den Advent hier nicht weniger real: Eine geschundene, dunkle, schmutzige, kranke, müde Welt wartet auf den Erlöser – auch wenn sie es so vielleicht nicht formulieren würde. Diese ganze un-heile Welt scheint auf dem halben Quadratkilometer, der sich „Camp Moria“ nennt, zusammenzukommen. Und ich ahne, dass ich die Sehnsucht, die im Advent steckt, in den nächsten Wochen stärker empfinden werde als zu Hause. 

    Mittwoch, 28.11.

    Warm und trocken

    „Aber ich brauche eine Unterkunft, die warm und trocken ist!“ Der Afghane, der darüber heute mit einer Helferin diskutiert hat, konnte sogar die Bescheinigung eines Arztes vorweisen, die das bestätigte. Als sie uns diese Episode nach der Schicht im Auto erzählte, kicherte sie immer noch ein bisschen hysterisch. Sie konnte ihm keinen warmen und trockenen Platz bieten; er wohnt immer noch, zusammen mit einem anderen Mann, in einem Zwei-Personen-Campingzelt im Olivenhain. Immerhin hat die Kollegin ihm eine Palette organisieren können, die er unter sein feuchtes Zelt schieben konnte. 

     

    Tage, wie wir sie in der letzten Woche mehrmals erlebt haben, kann man eigentlich gar nicht mit Worten beschreiben. Es herrscht dauernder Ausnahmezustand, und das, obwohl gar nichts Dramatisches passiert. Statt 22 bis 25 Helfern, die es für unseren „Normalbetrieb“ eigentlich braucht, haben wir im Moment nur 17 oder 18. Sie stemmen gleichzeitig die Jackenverteilung an alle POCs, die sich über die ganze Woche hinzieht: mehrere Helfer stehen den ganzen Tag vor oder in einem engen Container, bereiten Kleiderpakete vor und geben sie aus. Ich habe mir bis vor kurzem nie Gedanken gemacht, was für ein Volumen etwa 7500 Winterjacken plus Mützen, Schals und Handschuhe einnehmen! Und welche logistischen Klimmzüge sich ergeben, wenn es einfach keinen Platz gibt, sie unterzubringen. Jeden Tag bringt das Militär zur Zeit rund 1000 Jacken vorbei, die wir noch sortieren müssen. Aus rechtlichen Gründen dürfen sie die Sachen nicht direkt zu unserer Lagerhalle schaffen, sondern müssen sie auf dem Campgelände abgeben. Das führt zu dem absurden Ablauf, dass mehrmals am Tag ein kleiner Militärtruck vor unserem vollgestopften New Arrivals-Bereich mit seinem halb-offenen Lagerraum vorfährt, Soldaten zehn oder elf etwa 1 Kubikmeter große Kartons mit jeweils 30 Winterjacken durch einen engen Gang hindurchquetschen und irgendwo auf dem Kiesboden abstellen. Der starke Dauerregen der letzten Tage und das undichte Dach dort haben dafür gesorgt, dass der Boden voller Pfützen ist. Die Kartons werden von unten so aufgeweicht, dass die Nässe bis in die Jacken hineinzieht, obwohl sie meist zusätzlich in Tüten verpackt sind. Wenn unser Fahrer oder ich sie eine halbe Stunde später abholen möchten – und wir müssen mit dem VW-Bus zwei- oder dreimal fahren, wo der Militärtruck mit einer Fuhre ausgekommen ist! – , fallen die Kartons auseinander und einige Jacken sind so nass, dass wir sie erst einmal zum Trocknen aufhängen müssten. Wofür es keinen Platz gibt.

    Wir sortieren in der Lagerhalle ein bisschen vor, während in einem Container im Camp schon die Verteilung beginnt. Sie muss immer mal wieder unterbrochen werden, bis Nachschub da ist. Die POCs stehen teilweise stundenlang unter dünnen Ponchos im Dauerregen, um an ihre Jacken zu kommen, und manche verzichten dafür auf das Anstehen fürs Mittagessen oder auf einen Arzttermin. Immerhin sind es gute Jacken, die wir ausgeben können – das allein kann schon den Unterschied machen zwischen einer Kleiderverteilung, die halbwegs gesittet verläuft, und einem Aufruhr, bei dem wir die gesamte Mannschaft evakuieren müssen... Mützen und Handschuhe haben wir nicht für alle Erwachsenen, weil es mit dem Nachschub aus den Militärbeständen nicht immer so ganz reibungslos klappt. Jacken für Kinder von 3-4 Jahren haben wir ab dem vierten Tag auch nicht mehr, dafür aber süße Schneeanzüge für Babys von 0 – 12 Monaten, die durch eine Sonderspende zu uns gekommen sind. Die meisten POCs kommen aus Kulturen, in denen ohnehin nichts fair oder berechenbar ist, so dass sich die Beschwerden in Grenzen halten. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir allen Vergleichbares bieten könnten!

     

    Parallel läuft der „Normalbetrieb“: An Familien mit Babys werden Windeln ausgegeben, an Frauen und Kinder unter 11 Jahren Gutscheine zum Duschen außerhalb des Camps. 132 gelangweilte unbegleitete Teenie-Jungs müssen liebevoll in Schach gehalten werden. An manche Männer und Jungs werden Schaufeln und Hacken verliehen, damit sie Regenrinnen um ihre Zelte und Strukturen ziehen können. Und am Wochenende sind wieder einige Boote angekommen und die Menschen müssen versorgt und untergebracht werden. Seit letzter Woche gab es einige Transporte, um das Lager zu entlasten: fast jeden Tag wurden einige Dutzend, auch mal zweihundert, Leute aufs Festland verlegt. Das bedeutet nicht automatisch, dass wir Neuankömmlinge in den Unterkünften unterbringen können, die nun frei werden: Weil die selbstgebauten Strukturen nicht legal sind (obwohl viele von ihnen mehr Schutz vor dem Wetter bieten als manche Zelte!), müssen wir sie abreißen, auch wenn das bedeutet, dass die Neuen drei oder vier Tage im großen Zelt im Käfig des New Arrivals-Bereich auf ihr „Housing“ warten müssen. Manchmal schaffen wir auch nicht alles Benötigte zu holen, weil die Anlaufstellen und Ansprechpersonen sich über verschiedene Örtlichkeiten verteilen. Dann müssen wir spontan Entscheidungen treffen: bringen wir den Neuen vom letzten Boot nun Frühstück oder eine warme Decke? 

    Das alles findet den ganzen Tag über bei so starkem Regen statt, dass unsere Regenjacken und Gummistiefel nach spätestens 10 Minuten passen müssen; wir bewegen uns in einem Zustand ständigen „Klamm-Seins“ und einige der jungen Helfer, die seit Tagen draußen im Olivenhain Strukturen niederbrechen, schniefen längst erkältet vor sich hin. Immerhin können wir alle nach Schichtende zu Hause heiß duschen und in trockenen Kleidern in warmen Wohnungen den Abend verbringen. 

     

    Ein Mann aus Afghanistan ist mit seiner Unterbringung so unzufrieden, dass er seit gestern Abend eine Art Privat-Demonstration in unserem Info-Bereich veranstaltet hat: Auf der offenen Fläche, geschützt nur von einem Blechdach mit undichten Stellen, hat er auf etwa einem Meter Höhe eine 3x3 Meter große Plane gespannt und seine junge Frau und die Kinder dort auf dem Kiesboden übernachten lassen. (Ob er selbst dort geblieben ist, finden wir nicht heraus; vielleicht ist er gerade nur Frühstück holen, als wir morgens zur Schicht kommen.) Sie hatten nicht einmal Schutz an den Seiten ihrer kleinen Behausung. Und es hat die ganze Nacht gestürmt und wie aus Eimern geschüttet. Als heute morgen unser Info-Point geöffnet wurde, haben die anderen POCs seine Notunterkunft unbekümmert auseinander genommen, so dass seine Demonstration ins Leere gelaufen ist. 

    Vielleicht wollte er einfach nur durchsetzen, dass seine Familie es „warm und trocken“ hat. Oder doch wenigstens trocken. Wir können nicht einmal das hier gewährleisten; nach tagelangem Dauerregen frage ich mich, ob die Zelte und Planen überhaupt je wieder trocknen werden, oder ob alle Habseligkeiten, die unsere Flüchtlinge darin aufbewahren, zum Schimmeln verurteilt sind. 

     

    Schon ein trockener Schlafplatz scheint in Moria zuviel verlangt. 

    Mittwoch 21.11.2018

    Omiwindeln

    Hatte ich bei meinem letzten Blog-Eintrag eigentlich schon erwähnt, dass seit Montag, als wir mit dem Ausladen unseres LKW beschäftigt waren, auch noch mehrere Tausend Jacken und Mütze-Schal-Handschuhsets angeliefert wurden? Unser heldenhafter Fahrer, ein feiner junger Amerikaner, hat sie nach und nach beim Militär abgeholt und im silbernen Van herbeigeschafft. Von heute an bis Ende nächster Woche sollen, nach den Zonen im Camp sortiert, alle POCs diese Dinge bekommen, und eine entsprechende Sortierstation nimmt mit einigen engagierten Ehrenamtlichen wertvollen Raum in unserer Lagerhalle ein. Wir schieben hin und her und schichten um, ich lerne eine Ameise bedienen und zusammen mit einem GAiN-Verantwortlichen überlege ich händeringend, was wir alles möglichst schnell dahin geben können, wo es gebraucht wird, ohne dass es zu lange bei uns herumsteht. Eine deckenhoch bepackte Palette mit Erwachsenenwindeln ist da zum Beispiel noch zu finden, die wir im Camp noch nicht an den Mann gebracht haben. Beziehungsweise an die Frau: Es gibt nicht sehr viele inkontinente ältere Menschen im Camp, aber vielleicht können wir einen Plan entwickeln, sie diskret den Frauen anzubieten: Viele trauen sich nachts aus Angst vor Vergewaltigung nicht aufs Klo nach draußen, das haben uns Mitarbeiter einer anderen NGO bestätigt. Sie sind für diese Windeln dankbar, wie ich sie noch von meiner demenzkranken Omi kenne. Ich frage mich, was in einer gesunden Dreißigjährigen vorgeht, die nachts einfach mal zur Toilette muss und die es vorzieht, in eine Windel hinein „laufen zu lassen“.

     

    Bei manchen Dingen in unserer Lagerhalle wünschte ich mir wirklich, dass niemand sich je über sie freuen müsste.

    Montag, 19.11. 

    Regenzeit

    Es regnet. 

    Diese drei Silben klingen so harmlos. Meine griechischen Nachbarn, die Landwirtschaft betreiben, haben schon lange auf den Regen hin gebangt, und wir haben uns gewundert, dass die Regenzeit diesmal bis Mitte November auf sich warten ließ. Aber haben sie sich das hier gewünscht?? Am Samstag gab es einige unangenehme Schauer, und seit gestern hat es den ganzen Tag durchgeregnet. Fünf oder sechs viertelstundenlange Platzregen, in denen man keine zwei Meter zurücklegen konnte, ohne bis auf die Unterwäsche durchnässt zu werden, wurden nur von ermüdendem Dauerregen unterbrochen, und in der Nacht auf heute gab es ein stundenlanges Gewitter. Zu unserem silbernen Van, mit dem ich seit letzter Woche diverse Ehrenamtliche einschließlich meiner Person durch die Gegend kutschiere, komme ich nur durch eine knöchelhohe Pfütze, und bei verschiedenen Kollegen drückt das Wasser von unten in ihre Kellerwohnungen; die Kanalisation ist überfordert. Ich bin sicher nicht die einzige, die diese Nacht wachgelegen und an unsere POCs gedacht hat: Über 4000 leben immer noch in Zelten, und viele davon stehen immer noch ohne eine Palette als Unterlage auf dem weichen Boden des Olivenhains. 

     

    Entsprechend sieht es im Camp heute aus. Das Wasser aus dem offenen Abwasserkanal vor dem Tor ist eine stinkende Verbindung mit den großen Pfützen ebendort eingegangen, und ich möchte nicht wirklich wissen, durch was ich da – zum Glück in guten Schuhen – stapfe. Viele Flüchtlinge und vor allem Kinder laufen bei nassen 14 Grad immer noch in Flipflops und offenen Sandalen herum. Der Olivenhain ist ein einziges Schlammfeld, in dem man sich nur rutschend fortbewegen kann. Die Ausgabe von Regenponchos muss am Vormittag abgebrochen werden: Die Leute drängeln so wüst, dass die Kollegen sich um die Mütter Sorgen machen, die gleichzeitig für Windeln anstehen, und um die Schwangeren, deren Bäuche mit enormer Wucht gegen den Zaun gedrückt werden. Risse in Zelten und Strukturen versuchen die Kollegen und die Bewohner mit Silberband notdürftig abzudichten. Aber es geht nicht: Es regnet die ganze Zeit so stark, dass man die Folien nie trocken genug bekommt, um das Band darauf festkleben zu können. Viele Zelte sind komplett durchnässt, samt ihren Bewohnern und dem bisschen, was sie besaßen. Die Kartons, die sie unter ihre dünnen Matten und Planen gelegt haben, sind durchgematscht und zu nichts mehr zu gebrauchen. Den Menschen zu helfen, ist eine Sisyphus-Arbeit: Da möchte eine junge kanadische Kollegin eine neu angekommene Familie in einem Zelt unterbringen und stellt dabei fest, dass die eigentlich darunter liegenden Europaletten fehlen: die Familie, die vorher dort gewohnt hat und nach Athen abgeholt worden ist, hat sie noch fix an andere Leute im Camp verkauft. Paletten sind super begehrt.

     

    Ich bekomme von all dem erst abends vom Hörensagen mit, weil ich mich nach der morgendlichen Lagebesprechung gleich ins Warenlager aufgemacht habe: Dort ist ein großer LKW aus Holland angekommen, der zu einem großen Teil mit unendlich vielen kleinen Kartons und Plastiktüten voller unsortierter Kleidung beladen ist. Diese vielen, oft in bester Absicht gepackten Einzelspenden sind in dieser Form ein Alptraum für unsere Warenhalle, die sich so bis zur Decke füllt, dass wir uns kaum bewegen und erst recht nur schwer irgendetwas sortieren können. Wir entladen großteils bei strömendem Regen. Hoffen wir, dass die Kleidung gut genug verpackt ist und nicht zu schimmeln beginnt, bevor wir sie überhaupt sortieren können! Bei einer der letzten vollbeladenen Paletten, die unser holländischer Fahrer durch den leicht abschüssig geparkten LKW mit der Ameise auf die Ladebordwand rollen möchte, kommt es zum Unfall – die Palette rollt ihm entgegen, er weicht aus und fällt rückwärts ungefähr einen Meter tief. Ich sehe ihm die Palette in Zeitlupe hinterherrollen und ebenfalls von der Ladefläche purzeln; sie verfehlt ihn um Zentimeter. Als ich hinrenne, ihn anspreche und ihm gut zurede liegenzubleiben, bis Hilfe kommt, reagiert er verwirrt. Was aber auch daran liegen kann, dass er nur sehr wenig Englisch spricht... Das viele Blut, das uns am Anfang erschreckt, stammt von einer Platzwunde am Kopf, zwei Krankenschwestern aus dem GAIN-Team, das gerade hier mithilft, leisten die Erstversorgung. Wie praktisch, denke ich fast amüsiert, dass bei jeder christlichen Projektreise mindestens eine Krankenschwester dabei ist! Diese hier sind sogar Holländerinnen und können ihn in seiner Sprache ansprechen. Der Mann von der Autowerkstatt nebenan bestellt uns auf Griechisch einen Krankenwagen und bringt rührenderweise einen Schirm, den er gegen den Regen über den Kopf unseres Verletzten hält; eine griechisch sprechende britische Kollegin geht mit ins Krankenhaus. Was eine Katastrophe hätte sein können, geht glimpflich aus. Gott sei Dank!, sage ich hier von Herzen. (Nachtrag Dienstag: Und am Abend des nächsten Tages kann unser Fahrer sogar den LKW selbst zurückfahren.) In all den kleinen und größeren Dramen heute geht der Unfall fast unter. 

     

    Wir alle schuften – ob im Camp oder in der Halle – mit voller Kraft bis in die Abendstunden hinein, um an diesem Tag wenigstens das Nötigste zu tun. Die nächsten Tage werden nicht leichter. Ob es reicht? Die Regenzeit fängt gerade erst an.

    Montag 5.11.2018

    Zählung

    „Er heißt Arjun Razoul“, möchte ich am liebsten rufen. „Und seine Frau hier, das ist Nila.“ Aber nach ihren Namen werden die beiden hier im Zelt H732 nur noch selten gefragt; heute ist da keine Ausnahme. Es findet gerade eine Zählung statt: Gelegentlich kommen Leute von den griechischen Behörden und versuchen, einen Überblick zu bekommen, wer sich so alles im Lager befindet. Einen Tag vorher wurde das angekündigt und das Frühstück wurde schon zusammen mit dem Abendessen ausgegeben, damit alle brav in ihrer Behausung bleiben und sich am frühen Morgen zählen lassen können. Wir sollen den Griechen helfen, sich zurechtzufinden, weil wir schließlich täglich hier sind und uns auskennen. (Ich vor allem! Es ist ja schon mein zweiter Tag im Lager!) Ich bin unter Afghanen und französischsprachigen  Afrikanern einen Vormittag mit einem griechischen Sozialarbeiter und einem Farsi-Übersetzer unterwegs, beide so um die Dreißig. Sie begegnen unseren POCs mit professioneller Freundlichkeit und wir werden schnell ein gutes Team auf Zeit. Andere, die auch nur für die Zählung ins Lager gekommen sind, gehen sichtbar auf Distanz: sie tragen Mundschutz, sprechen gar nicht so sehr mit den Flüchtlingen, sondern mehr mit den Übersetzern über sie und scheinen sich trotz Handschuhen zu ekeln, überhaupt irgendetwas anzufassen.

     

    Zwischen den einzelnen Abschnitten stehen Polizei und Soldaten; man muss wohl immer damit rechnen, dass jemand aus Angst vor der Abschiebung ausrastet. Es bleibt an diesem Tag alles ruhig – manche POCs haben sich allerdings auch aus dem Staub gemacht, als die Zählung angekündigt wurde. Wir treffen vielleicht zwei Drittel der Menschen dort an, wo wir sie offiziell untergebracht, in unserer Sprache „gehoust“, haben. Die anderen haben sich selbst „gehoust“, wo sie ein passendes Plätzchen fanden. Irgendwie verständlich, auch wenn es unsere Arbeit nicht gerade einfach macht. In jeder Unterkunft werden die Daten aufgenommen. „Drei-Fünf-Acht-Acht-Neun-Zwei und Drei-Fünf-Acht-Eins-Drei-Sieben“, liest mein Grieche die Aktenzeichen von den Papieren der Bewohner ab, als wir vor Zelt H732 stehen, und er schreibt sie gleich mit auf sein Datenblatt. Ich gleiche seine Daten mit denen auf meiner Liste ab. Die Namen, die zu diesen Nummern gehören, sind für die Zwecke der Behörden irrelevant und er muss sie nicht mit aufnehmen. Arjun und Nila heißen die beiden, rufe ich mir wenigstens selbst innerlich zu. Sie sind keine Aktenzeichen. Sie haben Namen, und sie haben eine Geschichte. Ich hoffe, dass sie in all dem Chaos und den Massen von Camp Moria trotzdem immer wieder erleben, dass sie als Persönlichkeiten gesehen werden. 


    Samstag 3.11.2018

    Tiny homes

    Verbirgt sich hinter Nummer OG 1244 nun ein kleines Campingzelt, ein großes Zelt oder eine selbstgebastelte Unterkunft, bei uns „Struktur“ genannt? An meinem ersten Arbeitstag  fällt mir die Aufgabe zu, einzelne Bereiche des Camps zu kartieren. Das finde ich auch ganz hilfreich, um einen Überblick zu bekommen, wo was ist und wie die Menschen hier wohnen. Unsere selbstgemachten Lagerskizzen müssen ständig überarbeitet werden, weil die Leute samt ihren Zelten in eine andere Ecke des Camps ziehen, weil neue Behausungen dazu kommen oder POCs über ihrem Zelt eine ausgeklügelte Struktur aus Planen, Holzplanken und Seilen errichten, in der dann letzten Endes mehr Leute Platz finden, als wir in unseren Listen eingetragen haben. „Absprache“ ist dabei ein Fremdwort, und „unübersichtlich“ beschreibt die Situation noch sehr milde. Dass sich Zelt OG 1244 irgendwie in der Nähe von Zelt OG 1245 befinden könnte, ist zum Beispiel eine dieser naiven Annahmen, die ich schnell wieder vergesse.

     

     „Kreativ“ ist ein anderes Wort, das mir immer wieder in den Sinn kommt, als ich neue Unterkünfte einzeichne: Da wird in dem vielleicht 1,20 Meter breiten Spalt zwischen zwei Containern (Tiefe: 3 Meter) mit Hilfe einer abgesägten Euro-Palette, einiger Planen, Silberband und Decken ein winziges Heim errichtet, in dem zwei Erwachsene wohnen. Dieses Tiny Home aus der Not heraus sieht innen mit den weißen Containerwänden an der Seite und dem Boden aus grauen UN-Decken fast kuschelig aus; wie es sich darin leben lässt, wenn der Winter beginnt und Dauerregen die rissigen Planen durchdringt, kann ich mir dann aber doch nicht vorstellen, ohne zu frösteln. Eine typischere Behausung findet sich häufig freistehend im Olivenhain, dem informellen Lager außerhalb des eigentlichen Geländes: Ein Würfel aus Planen und Hölzern von vielleicht 2,20 mal 2,20 Metern Grundfläche, mit Europaletten und Pappdeckeln notdürftig gegen die Kälte und Nässe von unten abgeschirmt. „Mit wie viel Leuten wohnt ihr denn hier?“, frage ich den vielleicht 15jährigen Afghanen, den ich davor antreffe. „Wir sind zu fünft“, sagt er, „meine Eltern, meine zwei kleinen Brüder und ich. Aber immerhin haben wir jetzt unseren eigenen Platz.“ Im Olivenhain ist Sicherheit ein noch größeres Problem als im Hauptcamp, die sanitären Verhältnisse sind weit katastrophaler und die Unterkünfte noch armseliger. Dass Menschen freiwillig hierher ziehen, zeigt, wie dramatisch eng die Wohnsituation in Camp Moria ist.

    Vorgeschmack: Sonntag, 2.09.2018

    Ankunft in Moria. Ein Sonntag unter Flüchtlingen auf Lesbos

    Der widerliche Gestank der Dixiklos weht mit jedem Windhauch durch den Bereich der "New Arrivals". Wenn kein Wind geht, ist die schwere Hitze erst recht unerträglich. Das Thermometer zeigt 36 Grad. Zwischen der Nische mit den Klos und dem Tor, an dem ich heute für etwas Ordnung zu sorgen versuche, haben sich auf einer acht Quadratmeter großen Fläche auf dem Boden zwei afghanische Familien mit insgesamt fünf kleinen Kindern niedergelassen. Sie haben in dem überfüllten Bereich gestern keinen besseren Platz mehr finden können und sitzen seitdem dort; die Kinder dösen im Schoß der Mütter vor sich hin, die Väter versuchen mit Decken und Planen etwas Schatten zu schaffen. Viele der Leute, die in den letzten Tagen in diesem Bereich übernachten mussten, haben nicht einmal einen solchen Platz am Zaun bekommen: jeder freie halbe Quadratmeter ist besetzt und man steigt ständig über die erschöpften Körper hinweg. Das vielleicht 10x15 Meter große Zelt, das den größten Teil von "New Arrivals" einnimmt, ist schon längst überfüllt. Insgesamt hat unser Käfig - er ist mit festem Draht und Metalltüren vom übrigen Lager abgetrennt, und der NATO-Draht an der Oberseite lässt sich nicht überklettern - vielleicht 250 Quadratmeter; dass 400 oder mehr Leute hier übernachten, ist keine Seltenheit. Im Moment kommen fast täglich wieder viele dazu. Gestern sind es 80 gewesen, heute sollen es noch einmal 62 sein. Frontex hat sie bisher nur kurz befragt; ihr erstes offizielles Quartier wird hier in Moria sein, und je nachdem, woher sie kommen und wie ihre Bleibeaussichten sind, werden sie monate-, vielleicht auch jahrelang hier festsitzen. 

    Durch das Gewühl drängen sich gegen neun Uhr einige Polizisten und Frontex-Mitarbeiter: "Der Bus kommt!" Ich werde mit zählen, wie viel Männer, Frauen und Kinder wir heute aufnehmen, und der Kollegin Bescheid geben. Wir hoffen, dass wir für alle etwas zum Frühstücken da haben. "Einige von denen sind schon seit drei Tagen hier und haben noch nichts zu Essen bekommen," gibt einer der Frontex-Übersetzer schnell noch durch.
Und dann steigen sie aus dem Bus: verwirrte, erschöpfte Gestalten aus dem Kongo, Afghanistan, Sierra Leone und Syrien, dem Irak und Nigeria, die mit dem Boot die paar Kilometer zwischen der Türkei und Lesbos zurückgelegt haben, ohne von der türkischen Küstenwache aufgegriffen zu werden. Das Elend der ganzen Welt: es findet sich als Substrat in diesem Menschenhäuflein neben einem griechischen Reisebus. Viele wissen noch gar nicht, dass sie hier auf einer Insel gelandet sind. Und in einer Sackgasse.
"Welches Land?" "Wie viele Kinder?" "Go! Go!" "Arabisch oder Farsi?" "Wie alt?" "Wait!"
"Gehört das Kind zu dir?" "Go! Go!" - kein Wunder, dass die Ärmsten, desorientiert wie sie sind, nicht einmal mehr auf Rufe in ihrer Muttersprache reagieren. Ich versuche ihnen allen wenigstens freundlich zuzulächeln, wenn sie an mir vorbei durch das Tor stolpern. Zu sagen fällt mir nichts ein - "welcome!" würde mir zynisch vorkommen.
Ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht, steht verloren herum, einigen Frauen haben wir ihre Männer noch nicht zuordnen können, aber 62 Leute haben wir doch schon gezählt? "Es kommt noch ein Bus!"
Es sind noch einmal 53 Leute, und die Croissants in Plastikverpackung, die wir zum Frühstück verteilen, reichen nicht für alle. Die POCs ("Persons of Concern" klingt wohl besser als "Flüchtlinge") bleiben erstaunlich ruhig; vielleicht ist "resigniert" das bessere Wort.
Sie bekommen bei der Polizeistelle hinter einem anderen Zaun ihre ersten Papiere und treten dann nach und nach wieder in unseren New Arrivals-Käfig ein. Das fassungslose Erschrecken im Gesicht eines jungen Vaters - ein Kleinkind an der Hand, ein Baby im Arm - verfolgt mich bis in meine Träume. Ja, hier werden er, seine Frau und die fünf Kinder auf einer dünnen Plastikmatte im Gewühl auf dem Betonboden die Nacht verbringen. Und nein, es wird nicht besser, wenn sie nach einem halben bis drei Tagen den New Arrivals-Bereich verlassen.

    Privatsphäre gibt es in Moria genausowenig wie Platz oder Hygiene. Das Lager ist so hoffnungslos überfüllt, "dass man sich nicht einmal ungestört umbringen kann", wie ein Kollege es ausdrückt. Ärzte ohne Grenzen meldet bis zu 15 Suizidversuche am Tag; dass die wenigsten gelingen, liegt schlicht daran, dass überall, überall, überall Menschen sind, die es mitbekommen und einschreiten. 
Das eigentliche Lager fasst theoretisch zweitausend Leute; inzwischen sind etwa achttausend in Moria, und obwohl jeder verfügbare Quadratmeter - am Wegrand, halb unter Regenrinnen, im Eingangsbereich von Wohncontainern - mit Campingzelten oder selbstgebastelten Konstrukten aus Seilen und Planen besetzt ist, haben mehrere hundert Familien nur noch in einem Olivenhain hinter dem Lagerzaun einen Platz gefunden. Der Hain, auch "der Dschungel" genannt, ist halb-offiziell: auf ein Dixi-Klo kommen hier weit mehr Leute (der Durchschnitt liegt bei einer Toilette pro 75 Leuten), es gibt Schlangen und anderes Getier, weniger Wasser und keine Polizei, die im Lager im Notfall Streitende auseinander treiben oder junge Mädchen zu den Sanitäranlagen begleiten kann. Ich vermag mir nicht auszumalen, wie es hier im November sein wird, wenn der Regen beginnt: unter den meisten Zelten befindet nicht einmal die Europalette, die eigentlich zum Mindeststandard in der humanitären Hilfe gehört.

     

    Inzwischen sind viele der Neuen im New Arrivals-Käfig angekommen und ich leiste am Tor vollen Körpereinsatz: die Neuankömmlinge wollen raus, um das Camp zu erkunden; die alteingesessenen POCs wollen rein, Freunde besuchen und Geschäfte machen. Unbegleitete minderjährige Jungs, die hier nichts zu suchen, aber ansonsten nichts Sinnvolles zu tun haben, versuchen sich wahlweise an mir vorbeizuschäkern oder zu -schubsen. Es wird eng, und im Gewirr der Sprachen und lautstarken Forderungen die Nerven zu behalten, fordert Kraft. Die afghanische Familie zu meinen Füßen hat Chai besorgt - woher eigentlich? es ist beeindruckend, mit welcher Schnelligkeit sich die Leute hier organisieren! - und die junge Frau bietet mir schüchtern eine Papptasse an. Zum Glück habe ich gestern gelernt, was Danke auf Dari heißt. 
Bevor ich mich recht versehe, hat sich der geschäftstüchtige Syrer vom Kaffeestand gegenüber an mir vorbeigemogelt ("My friend! Just one minute!") und verkauft SIM-Karten an die Neuankömmlinge. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln: die Irakerin, die leise in ihr Telefon weint und sich anschließend verschämt mit dem Zipfel ihres Kopftuchs die Augen wischt. Den offenbar geistig behinderten kleinen Jungen, der sich zwischen all den Menschen verläuft und von seinen Geschwistern liebevoll immer wieder eingesammelt wird. Die vollverschleierte Syrerin, die irgendwann mitten im Getümmel ihr Baby zu stillen beginnt. Die Männer, die ihren Familien mit Pappdeckeln, die sie aus einem der überquellenden Müllcontainer gefischt haben, etwas Luft zufächeln.
Sie alle haben sich Europa anders vorgestellt. Und ich bin selbst auch bedrückt.

     

    Ich kenne haarsträubende hygienische Verhältnisse aus Haiti nach dem Erdbeben; aber das Land war schon vorher eine politisch instabile humanitäre Katastrophe. Ich habe auch schon Leute getroffen, die mit ihrer Familie am Wegrand übernachten mussten; aber das war im Irak 2014, als der IS das Land mit einer solchen Geschwindigkeit überrannte, dass Infrastrukturen zur Hilfe erst noch geschaffen werden mussten. Es ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal, ob Moria wirklich "das schlimmste Camp der Welt" ist, wie ein neuer Film der BBC behauptet; die prekären Verhältnisse hier machen mich fassungslos, weil es in der EU liegt - und weil die Menschen ja wirklich nicht erst seit gestern aus der Türkei übersetzen. Es wird schlimmer statt besser, sagen die Kollegen, die schon länger hier sind; in Moria Leid zu lindern, scheint immer unmöglicher zu werden.

     

    Ich bringe das nicht zusammen, sage ich an diesem Abend zu Gott, als ich bei gutem griechischen Essen auf die Bucht von Mytilini hinausschaue: Hier ist so viel jahrtausendealte Hochkultur. Hier ist so viel Schönheit, dass man weinen möchte. Hier bin ich mit meinem Reichtum und all meinen Vorrechten, bloß weil ich zufällig in Deutschland geboren bin. Und wenige Kilometer von hier sitzen Menschen im Dreck, die eh schon alles zurückgelassen und für die Zukunft keine echte Perspektive haben. Ist dir das egal? Hast du die weniger lieb als mich, Gott? Nein, ich bringe diese völlig verschiedenen Welten nicht zusammen!

    Und dann wird mir bewusst, dass Gott diese beiden Welten schon längst zusammengebracht hat: meine Kollegen und ich sind die Verbindungsstücke. Die Männer, Frauen und Kinder in Moria sind nicht ganz allein gelassen. Und wir - wir haben all unsere Privilegien auch nicht für uns alleine bekommen, sondern um mit offenen Händen und Herzen auf die Menschen in Moria zuzugehen. 

     

    Ich weiß noch nicht, wie es auf Dauer gelingen soll, in all dem Elend immer wieder ein wenig von der Güte, Menschenliebe und Freundlichkeit Gottes weiterzugeben. Aber eine ehrenvollere Aufgabe kann ich mir im Moment nicht vorstellen.

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